Angesichts des cineastischen Ausnahmezustands, den Lars von Trier mit „Nymphomaniac“ auf die Leinwände dieser Welt losgelassen hat, reicht es auch vollkommen, sich nur auf den Film zu konzentrieren, und all die Skandale und Skandälchen, die seine Karriere wohl für immer begleiten werden, für diesmal ganz beiseite zu lassen.
Jedes Wort über diesen Film ist im Grunde zu viel, da es die einzigartige Erfahrung, ihn zum ersten Mal zu sehen, unweigerlich in eine bestimmte Richtung drängt. Von Triers Muse Charlotte Gainsbourg, mit der er bei seinen drei letzten Filmen zusammenarbeitete, verkörpert diesmal einen Frau namens Joe, die sich – am Tiefpunkt ihres Daseins angekommen – der Freundlichkeit eines Fremden (Stellan Skarsgård) anvertraut und mit ihm in aller Offenheit die Geschichte ihres Liebes-Lebens teilt.
In acht streng unterteilten Kapiteln entfaltet sich ein überwältigendes Panorama eines ganzen Lebens, das von Anfang an und scheinbar unausweichlich von einer fehlgegangenen, falsch verstandenen und krankhaft übersteigerten Sexualität geprägt ist.
Ein Großteil der Szenen wird dabei von Stacy Martin bestritten, die die junge Joe und ihre Eskapaden mindestens ebenso beeindruckend spielt, wie die gewohnt großartige Charlotte Gainsbourg, die ab Kapitel sechs übernimmt. Der explizite und monothematische Umgang mit dem Motiv des Films (Sexsucht als Krankheitsbild, als bestimmende und zerstörerische Kraft im Denken und Handeln einer verzweifelt Suchenden) mag bei weitem nicht jedem gefallen.
Doch die künstlerische Konsequenz (erschlagender Einfallsreichtum trifft beeindruckendes handwerkliches Können), welche von Trier über diese überbordenden vier Stunden offenbart, muss einem zumindest Respekt abnötigen. Lars von Trier und sein Kameramann Manuel Alberto Claro, der bereits die atemberaubende Fotografie für „Melancholia“ (2011) als Empfehlung mitbrachte, zeigen sich bei der Optik von „Nymphomaniac“ ausgesprochen experimentierfreudig, geben sie doch beinahe jedem neuen Abschnitt auch eine neue Bildsprache.
So überrascht das klaustrophobisch enge Kapitel drei zum Beispiel plötzlich mit einem schmaleren Bildformat. Episode vier, Joes bittere und nur schwer zu ertragende Auseinandersetzung mit Tod und Sterblichkeit, ist dagegen konsequent in erstaunlich kalt wirkendem Schwarzweiß gedreht. Auch die Musik spielt eine immer bedeutendere Rolle in Lars von Triers ganz eigenem Verständnis des Kinos.
Wie schon in den letzten Jahren abzusehen, spielen klassische Themen auch hier wieder eine zentrale Rolle – doch auch einen wirkungsvoll geschnittenen Bilderrausch zu einem treibenden Rammstein-Song hat er locker im Repertoire. Im Vorfeld der Veröffentlichung gab es innerhalb der Internet-Filmgemeinde heftige, beinahe wütende Reaktionen auf die Planungen des Verleihs, zuerst nur die Kinofassung zu veröffentlichen.
Inzwischen steht fest, dass die Entscheidung für den fast fünfeinhalb Stunden umfassenden Director’s Cut von Lars von Trier jedem freisteht. Für 22 Euro wird diese noch deutlich explizitere und folglich erst ab 18 freigegebene Version ebenfalls ab dem 20. November im Handel erhältlich sein. Beide Varianten bieten eine Dreiviertelstunde an Interviews mit den Hauptdarstellern als Bonus, was einem im Nachhinein noch einmal ganz neue Ein- und Ansichten zur Interpretation dieses Stücks Kinokunst liefert.
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FILMINHALT: 9 von 10
TECHNIK: 8 von 10
BILDQUALITÄT: 8,5 von 10
TONQUALITÄT: 7,5 von 10
Kurzfazit: Ein kaum zu fassendes Arthouse-Monstrum, das einen erschlägt mit seinem Ideenreichtum, seiner Offenheit, seiner radikalen Andersartigkeit. Von Trier auf dem Höhepunkt seines Schaffens!
BONUSMATERIAL: 6 von 10
Infos zur Blu-ray
Genre: Thriller | Originaltitel: Nymphomaniac: Vol. I/Nymphomaniac: Vol. II | Land/Jahr: BE, DE, DK, FR, GB 2013 | Vertrieb: Concorde Home | Bild: MPEG-4, 2.35:1 | Ton: DTS-HD MA 5.1 | Regie: Lars von Trier | Darsteller: Charlotte Gainsbourg, Stellan Skarsgård, Stacy Martin, Willem Dafoe | Laufzeit: 118 + 124 min | Wendecover: k.A. | Anzahl Discs: 1 | FSK: ab 16 Jahre | Start: 20. November 2014
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[Tiemo Weisenseel]
Bildquelle:
- Inhalte_Blu-ray_Artikelbild: © Auerbach Verlag