Interaktives Fernsehen: Warum es keine Option ist

Über Bear Grylls, Scorsese und Streaming-Lügen

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Netflix hat mit „Du gegen die Wildnis“ in dieser Woche einen weiteren Versuch im Bereich Interaktives Fernsehen unternommen. Das vermeintlich originell Konzept ist jedoch ein einziger Trugschluss.

Martin Scorsese hat mal wieder die Hand erhoben. Nachdem der Hollywood-Regisseur schon einmal vor gut einem Jahr Disney für seine Marvel-Filme kritisierte und ihnen als „Vergnügungsparks“ den Kinocharakter absprach, sind jetzt die Streamingdienste in sein Visier geraten. Reichlich spät, zugegeben, und immerhin muss Scorsese selbst eingestehen, von Netflix etwa zu profitieren. Mit „The Irishman“ ist das über dreistündige Resultat bekanntlich im Netz zu sehen.

Aber dennoch, das Gezeter im Internet springt auf Scorseses Seitenhiebe an und fühlt sich (hoffentlich) ertappt. In einem Essay für das Harper’s Magazine beschwört der Regisseur seine Liebe zu Filmemacher Frederico Fellini und grenzt ihn vom Großteil des Gegenwartskinos ab. Scorseses Nostalgie-Schwärmerei kann man belächeln, den ersten Teil seines Textes kann und sollte man hingegen nicht ignorieren.

Nur noch „Content“

„Die Kunst des Kinos“, schreibt Scorsese, „wird systematisch abgewertet, außer Kraft gesetzt, herabgewürdigt und reduziert auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf ‚Content‘.“ Alle bewegten Bilder würden heute unter dem Business-Begriff „Content“ zusammengefasst. „Alles wird dem Betrachter auf Augenhöhe präsentiert, was demokratisch klingt, aber es nicht ist. Wenn weiteres Sehen durch Algorithmen ‚vorgeschlagen‘ wird, die auf dem basieren, was Sie bereits gesehen haben, und die Vorschläge nur auf Themen oder Genres basieren, was bedeutet das dann für die Kunst des Kinos?“, prangert der Regisseur weiter an. Nicht nur für das Kino!

Was Scorsese anspricht, betrifft in seiner Verflechtung gleichermaßen Kinofilme, Serien, Fernsehen, Formen des Konsumierens allgemein. Es fallen einem auf Anhieb unzählige Beispiele ein. Egal ob es hunderte, nicht enden wollende Netflix-Serien sind, Neuverfilmungen, Spin-Offs, Prequels in den Kinos, Streaming-„Inhalte“ von Disney, die in einer Quantität angekündigt werden, dass man glaubt, die aktuellen Lotto-Zahlen vor sich zu haben.

Eine Kritik daran muss nicht sofort bedeuten, dass all diese „Inhalte“ keine Berechtigung haben. Ebenso wenig sind alle davon verwerflich oder ist per se etwas gegen ein gesundes Recht auf Unterforderung einzuwenden. Nur ihre naive Rezeption und ihr Wachstum sind alarmierend, das die (durchaus vorhandenen) Gegengewichte aus dem Diskurs zu verdrängen droht. Das Übel liegt nicht allein bei denen, die sie anbieten, sondern bei denen, die sich ihnen allzu blind hingeben. Der wachsende Resonanzboden ist das, was zu denken geben sollte.

Die „Black Mirror“-Folge „Bandersnatch“ gab dem Publikum Möglichkeiten zur aktiven Interaktion.

Über die Unmündigkeit

Der Medienwissenschaftler Marcus S. Kleiner skizzierte etwa im vergangenen Jahr in seinem Sachbuch „Streamland„, wie Streamingdienste ihr Publikum entmündigen und zu reinen Konsumenten erziehen. Ähnliches kritisiert auch Scorsese. Wie jene Lust an der Unterforderung heute so weit reicht, dass die Anbieter sie dazu nutzen, Zuschauer in ihren individuellen, algorithmisch organisierten Filterblasen abtauchen zu lassen. Ähnliches dominiert, Wünsche werden erfüllt. Auseinandersetzung, Irritation, ein Eröffnen von Horizonten, das Potential von Kunst gehen verloren. Ein beachtlicher Teil von Film-, Serien- und Fernsehkultur wird damit zu Wellness erklärt.

Marcus S. Kleiner führt diesen Gedanken weiter und sieht in dieser Entwicklung eine Gefahr für ein demokratisches Bewusstsein, wenn sich alle in diese Filterblasen zurückziehen und die Verantwortung unbedarft abgeben. Dienste wie Netflix suggerieren zwar eine Auswahl, letztendlich landet aber nur das auf der Startseite, was der Algorithmus für den Nutzer bereits gefiltert hat, ist Kleiners Erläuterungen zu entnehmen. Hauptsache ist, immer weiter zu konsumieren. Autoplay macht’s möglich! Seit einiger Zeit können Ungeduldige sogar die Geschwindigkeit erhöhen, um noch mehr Serienepisoden in kurzer Zeit zu schauen.

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Blödsinniger Wildnis-Trip

Um bei Netflix zu bleiben: Das aktuellste Beispiel für diese Form des leeren Konsums und der Schein-Freiheit ist erst in dieser Woche erschienen. Nach beispielsweise „Black Mirror: Bandernsatch“ (2018) hat der Dienst nun die Mitmach-Show „Du gegen die Wildnis“ veröffentlicht. In der Serie soll das Publikum mit Protagonist Bear Grylls interagieren und sich mit ihm gemeinsam durch die raue Natur schlagen. Fernsehunterhaltung aus der Zukunft? Eine neue Form, Serien und Filme zu rezipieren? Mitnichten!

In der ersten Folge geht es etwa darum, eine Ärztin im Urwald aufzuspüren, um Kinder in einem Dorf zu retten. Unterwegs hat man dann per Klick immer wieder die Wahl, wie man ans Ziel kommt. Welche Ausrüstung nimmt man mit? Soll man über einen Baumstamm klettern oder sich per Liane über den Abgrund schwingen?

Netflix bietet damit einen Kinderspielplatz im Corona-Wohnzimmer. Man muss für das Abenteuer nicht einmal mehr nach draußen gehen. Der Fernseher genügt, etwas karitativer Plot obendrauf und schon ist das Gewissen beruhigt! Entscheidungsfreiheit wird dort suggeriert, wo eigentlich alles feststeht. Nur der Weg kann sich leicht unterscheiden. Verhöhnt wird damit der Fakt, dass TV-Shows, Serien und Filme von Natur aus immer interaktiv sind, nämlich im Moment der unweigerlichen Auseinandersetzung und Konfrontation mit ihnen, auch wenn man gerade nicht in das unmittelbare Geschehen eingreifen kann. Es hat solche Versuche des interaktiven Erzählens in der Kunst schon länger gegeben, weiterentwickelt haben sie sich nicht.

„Sie haben die Wahl!“

Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen lässt man sich auf ähnlichen Unsinn ein. Dort entdeckte man etwa die Stoffe von Ferdinand von Schirach und stilisierte sie zu großen Publikums-Experimenten hoch. In diesen Filmen muss dann das Publikum am Ende explizit daran erinnert werden, dass es sich jetzt selbst eine Meinung zum Gezeigten bilden muss. Bravo, was für eine Revolution! Im letzten Vertreter, „Feinde“, konnte man beispielsweise zwischen zwei Perspektiven hin- und herschalten. Maskiert hat man dadurch lediglich eine furchtbar generische „Tatort“-Folge, die trotz zweier Blickwinkel den gleichen, schnell durchschauten Kern zu erzählen hatte.

Völlige Banalität und Leere werden in dem Moment verschleiert, in dem das Publikum zum zombiehaften Mitmach-Tippen per Maus oder Fernbedienung gezwungen wird, obwohl es innerhalb des Bildschirms oder (bald?) auf der Leinwand eigentlich nichts mehr zu entscheiden gibt. Entscheidungshoheit wird lediglich neuen filmischen Regeln unterworfen, alles im Dienste von Konsum und Quote. Solche bestimmten Versuche, Zuschauerinnen und Zuschauer zu vermeintlichen Puppenspielern zu erheben, ist nicht nur ein einziger undurchdachter Trugschluss, sondern pervertierte Kunstfeindlichkeit!

„Feinde“ nach Ferdinand von Schirach lief als großes TV-Experiment

Bei dem „Bandersnatch“-Film von Netflix war das ähnlich, wenn auch cleverer konstruiert. Unterwerfung unter Technologie, ein zentrales Motiv der „Black Mirror“-Serie, wurde zum Spiel erklärt. Entscheidungsfreiheit über den Ausgang einer Erzählung suggerierte man da, wo letztlich doch nur Ohnmacht herrschte. Genau diese Ohnmacht gegenüber eines Films, einer Serie, selbst gegenüber TV-Nachrichten scheint so unerträglich, dass bestimmte Anbieter einem nun ein trügerisches Gefühl von Beherrschbarkeit zurückgeben wollen. Damit sich ein jeder seine eigene kleine Welt schaffen kann, über deren Regeln man doch nur scheinbar verfügt und die eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Realität, mit – da ist das böse Wort – Inhalten vergessen lässt.

Gescheiterte Experimente

Nun wird sich die Welt auch morgen noch nach diesem jüngsten Netflix-Testlauf eines interaktiven Fernsehens weiter drehen. Ganz so, wie auch ein Martin Scorsese gar nicht erst gegen einzelne Titel, sondern gegen Strukturen ausholt. Derartige Experimente zeigen nur, was hoffentlich keine Zukunft haben wird. Allein die genannten Beispiele spiegeln ausreichend, was Anlass zur Sorge bereitet.

Interaktion, Reflexion ist dort gefragt, wo Ohnmacht und Auslieferung am unerträglichsten und zugleich am lustvollsten sind. Die Erkenntnisse, die solche Erlebnisse durch Kunst hervorbringen können, dazu braucht es kein vorgegaukeltes Mitbestimmungsrecht, Ja, es steht ihnen sogar im Wege. Eine Fernbedienung sollte in solchen Fällen höchstens zu einer Sache gebraucht werden: zum Abschalten! Am Ende des „Du gegen die Wildnis“-Piloten schlägt Bear Grylls vor, doch einfach das nächste Abenteuer zu starten oder die gerade gesehene Folge direkt noch einmal zu schauen, um zu überprüfen, ob man die Ärztin noch schneller retten kann. Die Antwort lautet: Und dann?

Bildquelle:

  • schirach: ARD Degeto/Moovie GmbH/Stephan Rabold
  • beargrylls: Duane Howard/ Netflix
2 Kommentare im Forum
  1. Ich kann diesem Artikel nur weitgehend zustimmen! Das heute der Massenkonsum im Vordergrund steht wird doch schon dadurch deutlich, dass eine Breite Masse keinen Wert mehr auf Bild- und Tonqualität beim konsumieren legt und man zufrieden ist mit einem Mini-Bildschirm, Kompressionsartefakten und Quäkesound. Im Vordergrund steht halt in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Content zu konsumieren. Warum haben denn TikTok&Co. solch einen Erfolg? In kurzer Zeit möglichst viel kurzen Content aufnehmen ohne sein Hirn anwerfen zu müssen. Sich einfach berieseln lassen und zudem noch die Algorithmen entscheiden zu lassen, wass man sich anschaut. Und dem Ganzen setzen dann noch die im Artikel erwähnten Technologien zum beschleunigten Konsumieren, also der Erhöhung der Wiedergabegeschwindigkeit, die Krone auf.
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