Seit mehr als 70 Jahren strahlt der US-Auslandssender Radio Free Europe/Radio Liberty Programme in russischer Sprache aus. Heute sucht man nach immer neuen Wegen, die Internetblockade gegen westliche Medien in Russland auszutricksen. Ein Besuch im Funkhaus in Prag.
Wer das Hauptquartier des US-Auslandssenders Radio Freies Europa/Radio Liberty (RFE/RL) besuchen will, muss strenge Sicherheitskontrollen über sich ergehen lassen. Panzerglas und dicke Mauern schützen den Komplex an der Vinohradska-Allee in Prag, wo der Sender seit 2009 seinen Sitz hat, vor Anschlägen. Die Stahltüren fallen lautstark ins Schloss. Hunderte Journalisten arbeiten hier, um Programme für Hörer in 23 Ländern in 27 Sprachen auszustrahlen.
Besondere Aufmerksamkeit widmet der Sender inzwischen wieder einer Region, die zwischenzeitlich etwas in den Hintergrund gerückt war: Osteuropa. Andrey Shary leitet die russischsprachigen Programme, die unter den Marken Radio Swoboda (Radio Freiheit) und Current Time TV operieren. Nach dem Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine im Februar 2022 sei die Zahl der Hörer und Leser sprunghaft angestiegen, berichtet Shary – so stark wie seit dem Putschversuch gegen Gorbatschow 1991 nicht mehr.
Seit Kriegsbeginn höchster Nutzeranstieg nach Ende der Sowjetunion
Doch auch die Repressalien gegen ausländische Medien in Russland nahmen zu. Nach mehr als 30 Jahren musste der Sender sein Büro in Moskau schließen, in dem rund 100 Journalisten gearbeitet hatten. Die meisten von ihnen sitzen nun in Riga, Tiflis oder Eriwan. „Dennoch haben wir weiter eine Präsenz auf dem Boden, und ich halte das für sehr wichtig, um nicht den Bezug zu den Entwicklungen in Russland zu verlieren“, berichtet Shary. Den Mitarbeitern vor Ort sage man offen, was das für ihre persönliche Sicherheit bedeute.
Wie groß das Risiko ist, in die Mühlen der russischen Justiz zu geraten, zeigt der Fall der RFE/RL-Journalistin Alsu Kurmasheva. Seit mehr als drei Monaten sitzt die russische und US-amerikanische Staatsbürgerin in Kasan in Untersuchungshaft. Ihr wird vorgeworfen, sich nicht als „ausländische Agentin“ registriert zu haben.
Als ausländische Agenten werden in Russland Menschen, Medien, Organisationen gebrandmarkt, wenn sie aus einem anderen Land Geld erhalten; sie sollen so als Spione stigmatisiert werden, die im Interesse anderer Staaten arbeiten.
Kurmasheva habe nur zwei Wochen in Russland bleiben wollen, um ihre alte und kranke Mutter zu besuchen, sagt ihr Ehemann und RFE-Kollege Pavel Butorin. „Man hat sie im Prinzip als Geisel genommen“, beklagt er. Es sei klar, dass über ihr Schicksal in Moskau entschieden werde. Ihre beiden Kinder fragten immer wieder nach ihrer Mutter, sagt Butorin.
Bis 1995 in München war Radio Free Europe beheimatet
Gegründet wurde Radio Freies Europa 1949 zum Höhepunkt des Kalten Krieges. Anfangs war es ein antikommunistisches Projekt des US-Geheimdienstes CIA, heute kommt das Jahresbudget von umgerechnet mehr als 100 Millionen Euro vom US-Kongress. Bis zum Umzug nach Prag 1995 sendete RFE/RL aus einem großen Gebäudekomplex am Englischen Garten in München. Damals beeinträchtigten Störsender den Empfang im Ostblock. Heute greift in Russland die staatliche Internetzensur zu. Seit fast zwei Jahren blockieren die russischen Behörden die Webseiten des TV-Nachrichtenkanals Current Time und von Radio Swoboda.
In Prag sucht man ständig nach Auswegen – ein „technisches Katz-und-Maus-Spiel“, wie Shary sagt. Besonders wichtig als Plattform seien soziale Medien wie Telegram und Youtube, die in Russland nicht blockiert werden. Youtube lasse sich nicht nur für Videos, sondern auch für Podcasts und sogar Texte verwenden. Zudem habe man eigene Smartphone-Apps entwickelt. „Doch nicht jeder hat den Mut, die Apps zu installieren, denn die Polizei könnte das Handy kontrollieren“, sagt Shary. Viele Hörer und Zuschauer würden zu Hause auf einen sogenannten VPN-Tunnel zurückgreifen, um die Internetblockade zu umgehen.
Bei Radio Free Europe versucht man, auch Hörer jenseits der liberal denkenden Kreise in Sankt Petersburg oder Moskau zu erreichen. „Man kann ihnen nicht sagen, dass alle Russen böse sind – wir müssen zu diesen Menschen in einer Sprache sprechen, die sie akzeptieren können“, sagt Shary. Dazu gehöre es auch, lokale Probleme anzusprechen, die den Alltag der Menschen berühren. Man nennt das hier „Hyperlocal-Journalismus“.
Nur wenige Schritte vom russischsprachigen Dienst entfernt sitzen die Kollegen des ukrainischsprachigen Programms des Senders. Seit dem Beginn der russischen Aggression habe man zusätzliche Mittel erhalten und ein neues Büro in Lwiw eröffnet, berichtet dessen Leiterin Maryana Drach. Mehr als hundert Journalisten berichteten täglich aus der Ukraine mit einem Schwerpunkt auf investigativen Journalismus – und auch direkt von der Front.
Es ist kein ungefährlicher Job: Erst vor kurzem sei ein Reporter im südukrainischen Gebiet Saporischschja bei Robotyne unter russischen Artilleriebeschuss geraten und schwer am Bein verletzt worden, sagt Drach. Vor knapp zwei Jahren starb die Produzentin Wira Hyrytsch bei einem Raketeneinschlag in ihrer Wohnung in Kiew. Drach sagt: „Ihr Schicksal steht beispielhaft für viele ukrainische Zivilisten, die zu unschuldigen Opfern des Krieges geworden sind.“
[Michael Heitmann]
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