Die Mikrofone von Radio La Colifata gehören den Patienten einer psychiatrischen Anstalt in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires. 1991 schon ging der ungewöhnliche Radiosender On Air – als erste Radiosendung der Welt aus der Psychiatrie.
Angst vor dem Mikro scheint Julio Rivera fremd zu sein. Charmant scherzt er mit den Besuchern, ermutigt sie, sich den Hörern vorzustellen. Sein Publikum sitzt im Halbkreis auf Plastikstühlen vor ihm. Sein Studio ist der Innenhof des neuropsychiatrischen Krankenhauses José T. Borda in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires.
„Radio La Colifata ist Leben“, sagt Julio. „Früher war ich schüchtern und aggressiv, konnte es schlecht in einer Gruppe aushalten. Durch das Radio habe ich mich verändert. Ich habe viele Leute kennengelernt, zum Beispiel auch Politiker und bekannte Radiomoderatoren.“ Ein Jahr war der 44-Jährige Patient im Borda-Krankenhaus. Heute kommt er nur noch samstags zum Radio. Und das seit mittlerweile fünf Jahren.
Dass seine Idee solche Ausmaße haben würde, daran dachte Alfredo Olivera nicht, als er im August 1991 begann, mit einem einfachen Kassettenrekorder die Patienten aufzunehmen. Olivera war 24 Jahre alt, studierte im ersten Jahr Psychologie und arbeitete als Freiwilliger im Borda-Krankenhaus. „Bei der Arbeit bemerkte ich, dass viele der Patienten fast ihr ganzes Leben im Krankenhaus verbrachten, 20, 30 oder 40 Jahre. Sie hatten die Verbindung zur Außenwelt verloren, zu ihren Familien, ihrer Arbeit, der Gesellschaft“, erinnert sich der Leiter von La Colifata.
Ein Bekannter lud ihn ein, in einem Bürgerradio in der Provinz über seine Erfahrungen mit den psychisch Kranken zu berichten. Olivera hatte allerdings eine andere Idee: Wieso nicht die Patienten selber sprechen lassen? Und zwar nicht nur einmal, sondern wöchentlich, in einer eigenen Kolumne. Die Resonanz der Hörer auf die Kolumne war enorm. Monate lang spielte Olivera Brieftaube, trug die Tonbänder mit den Fragen der Hörer und den Antworten der Patienten zwischen Bürgerradio und Krankenhaus hin und her. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Idee eines eigenen Radiosenders aufkam.
Die Namensgebung war dann Sache der Hörer. Aus den Vorschlägen der Patienten wählten sie den Namen Radio La Colifata aus, Radio Irrsinn im argentinischen Lunfardo-Jargon. Seit Ende 1992 sendet LT 22 Radio La Colifata auf einer eigenen Frequenz aus dem Innenhof des Krankenhauses, fünf Stunden, jeden Samstagnachmittag, bei jedem Wetter.
Auf der schwarzen Tafel hinter dem Mischpult wird Samstag für Samstag der Sendeablauf notiert. Eine Sendung kann eine Stunde dauern, oder auch nur 15 Minuten. Es gibt politische, persönliche, wissenschaftliche Themen. Die Sendungen sind so unterschiedlich wie ihre Moderatoren selber, heute etwa 25 Patienten und Ehemalige des Borda-Krankenhauses.
„Das Radio ist eine Form von Therapie“, sagt Olivera. „Durch das Radio beginnen die Patienten, ihr soziales Netz auszuweiten. Sie entwickeln Freundeskreise und feste Strukturen.“ Das Radio ist eine Brücke zur Außenwelt. Und eine Möglichkeit, soziale Stigmata abzubauen. Zwar ist La Colifata nur im angrenzenden Stadtviertel Barracas zu empfangen, aber dennoch: Das Radio aus der Psychiatrie ist zur Institution geworden. Die Colifatos standen schon mit dem französischen Sänger Manu Chao auf der Bühne und spielten als Statisten in Francis Ford Coppolas Film „Tetro“ mit.
Mittlerweile arbeitet ein Team von neun Menschen fest für La Colifata. Auch wenn Olivera die Augen rollt, wenn es um die Finanzierung geht – Jahr für Jahr rettet sich das Radio mit Einnahmen aus Werbespots, Benefizkonzerten, Stiftungen und privaten Spenden über die Runden. Zum zwanzigjährigen Bestehen sendet La Colifata seit Dienstag auch online und soll Dank einer größeren Antenne bald auch in ganz Buenos Aires zu hören sein.
Olivera träumt davon, mit Colifata irgendwann sieben Tage die Woche zu senden und seine Moderatoren bezahlen zu können. Wie bei jedem normalen Radio. Nur dass bei Radio La Colifata eben nichts und niemand normal ist. [Lisa Rauschenberger]
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