„They See You“: Eine Reality-Show zum Fürchten

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Mina und ihr Spiegelbild in "They See You"
Mina in "They See You" Foto: 2024 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.

„They See You“ entführt das Publikum in schaurige Wälder und schwankt unentschlossen zwischen Mystery, Mediensatire und Folk Horror.

Es fühlt sich wie ein finsteres Märchen an. Irgendwo im Westen Irlands soll es ein Waldstück geben, das auf keiner Karte zu finden ist. Wer sich hineinwagt, so droht eine Erzählerstimme, kehrt nie wieder zurück. Ein Mann rennt dort panisch zwischen Bäumen umher, Nebel wabert, ein schwarzer Vogelschwarm wird aufgescheucht. Schemenhaft gibt sich eine Gestalt in der Ferne zu erkennen, bevor der Mann in ein Erdloch gezogen wird. „They See You“ fordert gleich in seinem stimmungsvollen Auftakt ein erstes Opfer und es dauert nicht lang, bis sich die nächste Verdammte in den Horrorwald verirrt.

Mina (Dakota Fanning), eine Künstlerin, strandet mit dem Auto und einem exotischen Vogel im Gepäck an diesem furchterregenden Ort und kommt nur knapp mit dem Leben davon. In einer bunkerähnlichen Hütte findet sie bei drei Fremden Unterschlupf, angeführt von der strengen Madeline. Quasi eine Flucht ins Hexenhäuschen! Dass hier etwas nicht stimmt, liegt schnell auf der Hand. Eine einseitig verspiegelte Scheibe trennt innen und außen. Die Bewohner blicken nur verstört ihrem eigenen Spiegelbild ins Antlitz. Aber draußen vor der Hütte, dort lauern mit Einbruch der Dunkelheit die sogenannten Watchers, die Zuschauer, um die Menschen aus erster Reihe zu beobachten.

Der Schauplatz von "They See You"
Unheilvoller Zufluchtsort Foto: 2024 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.

„They See You“ ist das Debüt von Ishana Shyamalan

Ishana Shyamalan, Tochter von M. Night Shyamalan (The Sixth Sense) hat diesen Kinofilm geschrieben und inszeniert. Die Regisseurin hat damit einen Schauerroman des Schriftstellers A.M. Shine adaptiert, der auf Deutsch demnächst im Festa Verlag erscheinen soll und darüber hinaus eine Fortsetzung erhält. Shyamalans Leinwandadaption arbeitet werktreu und eng an der Vorlage. Zu werktreu, will man sagen, denn die Schwächen des Romans treten in der komprimierten Filmversion umso deutlicher zu Tage.

Bis zu den Durststrecken entwirft „They See You“ jedoch einen interessanten und vielschichtigen Versuchsaufbau. Wenn die Beobachteten von einer „Show“ sprechen und überlegen, wie sie sich am besten präsentieren und „einfach sie selbst“ sein können, wenn sie als einzige Ablenkung die immer gleichen Reality-Shows auf DVD konsumieren, bis sie einzelne Dialoge mitsprechen können – dann nimmt eine Parabel über das Stattfinden und Inszenieren im Rampenlicht der Entertainment-Branche schnell Gestalt an.

Mina vor dem Spiegel in "They See You"
Mina erkundet ihr verdrängtes Ich. Foto: 2024 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.

Reality-Darsteller wider Willen

Ishana Shyamalan inszeniert die Raumkonstruktion des Romans dezidiert aus einer medialen Sichtweise. Es ist die große Stärke ihres Films. Der Bunkerkomplex sieht aus wie ein großer Fernseher, den man im Wald drapiert hat, um ein paar Ahnungslose als Selbstdarsteller wider Willen zu präsentieren. Die ganze Welt hat sich hier in das Reality-Format verwandelt, das man im Kleinen schaut und im Großen kopieren soll. Und das Gaffen der Zuschauer wird zur raubtierhaften Gewalt.

Mantraartig werden also Regeln aufgesagt. Bloß nicht mit dem Rücken zur Scheibe stehen, bloß nicht aus dem Licht treten! Und was, wenn man die Regeln bricht? Einmal wagt sich Mina in eine Höhle, wo ein besonderer Fund das mediale Spiel zusätzlich verschachteln wird. Nun, im Dschungelcamp hätte man solche Regelverstöße sicher mit Zigaretten-Entzug oder der Abgabe eines Luxusartikels geahndet!

Seine Spannung zieht „They See You“ allerdings nicht vordergründig daraus, das Verhalten von Reality-Darstellern oder deren Regelwerk spöttisch vorzuführen oder zu parodieren. Vielmehr belädt er seinen Blick auf diese Welt, will man den Film überhaupt auf einer solchen Parabel-Ebene lesen, mit einer permanenten Last. Er erzählt von zwanghaftem Verhalten. Was, wenn man unbeabsichtigt in solche Strukturen gerät? Wenn sie sich gar nicht nur auf den Fernseher begrenzen lassen? Das Gefangensein in einem riesigen Medienzirkus wird so zum puren, dystopisch anmutenden Grauen.

Erkundung im Wald
Bloß nicht zu weit in den Wald gehen! Foto: 2024 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.

Gefangen im Riesenfernseher

Der Mensch, der plötzlich dazu gedrängt wird, über sein öffentliches Auftreten nachzudenken, fürchtet, dass die letzte Schutzbarriere zum Publikum durchlässig wird. Die dort draußen, sie streben danach, die Ausgestellten zu kopieren, ihnen nahe zu sein, sich in sie zu verwandeln. Die Welt der Reality-Unterhaltung lebt von genau solchen Mechanismen, Vorbild-Inszenierungen und Nachahmungen. Sie sind heute in der Regel mit Influencer-Karrieren verstrickt, die Menschen zu einer homogenen Gefolgschaft versammeln, welche sich dann in geteilten Interessen angleicht. Sie genießt die Illusion der völligen Transparenz und Teilhabe am öffentlich inszenierten Leben von anderen Menschen.

In „They See You“ wird es brenzlig, wenn jene Schutzbarriere, quasi der trennende Bildschirm, Risse erhält. Wenn das Beobachten übergriffig wird und Privates und Öffentliches gänzlich durchmischt. Schade, dass der Film dabei so wenige Ambivalenzen und Grautöne im Bewusstsein und Agieren der Figuren zulässt! Ishana Shyamalan inszeniert zumindest wenige raffinierte Szenen, in denen die Kamera selbst in die Rolle der zunächst unsichtbaren Zuschauer schlüpft. Sie lässt also das Kinopublikum mit dessen monströsem Zerr- und Spiegelbild verschmelzen.

Ein Horrorfilm über Horrorfilme?

Insofern ist „They See You“ nicht nur ein Horrorfilm über Menschen, die plötzlich zu Personen des öffentlichen Lebens werden und den möglichen Terror des medialen Rampenlichts erfahren. Er entwirft ebenso eine Metaebene über das Horrorkino selbst, das seine Figuren im Bild positioniert, damit die Außenwelt anonym und voyeuristisch beim Leben und Leiden zusehen kann. Zumindest in Ansätzen!

Das Problem ist nämlich: Diese vielseitige und irgendwann schroff abgebrochene Versuchsanordnung formt nur den ersten von drei großen Akten, in die „They See You“ regelrecht zerfällt. Die Romanvorlage krankt daran, dass sie sich nicht traut, ihre Konstellation über Selbstentfremdung, Grenzziehungen und Verfolgungswahn in einem geschlossenen System radikal in der Perspektive zu komprimieren. Oder die Leser an den passenden Stellen im Unklaren zu lassen und über das verdichtete Spiel nachzudenken. Stattdessen wird alles unendlich aufgebläht, mit wechselnden Sichtweisen und Schauplätzen verkompliziert, auserzählt und zu Tode geplottet.

Was verbirgt sich im Erdreich? Foto. 2024 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.

Vom Horror der eigenen Ersetzbarkeit

Shyamalans Verfilmung tappt leider in dieselbe Falle, trotz deutlich spürbarer Raffung. Was als Medienhorror beginnt, wechselt zum Horror der eigenen Identität. Hat sich das ominöse Publikum ihrer angeschauten Subjekte bemächtigt, zerfließen die Grenzen zwischen Personen und unheilvollen Doppelgängern. Der nachahmende und nachgeahmte Mensch fürchtet sich vor seiner eigenen Ersetzbarkeit und dunklen Kehrseite. Er entfremdet sich von seiner Identität. Und überhaupt: Ist das Gegenüber wahrhaft die Person, für die man sie hält? „They See You“ arbeitet mit ganz klassischen Horrorfilm-Ängsten.

Als wäre diese komplexe Verschiebung nicht genug, geht der Film noch weiter. Eine Prise Folk Horror muss her! Um uralte Legenden in der Abgeschiedenheit geht es da, um die fragile Trennung von Kultur und Natur. All das Wundersame, die alten Geschichten und Sagengestalten entwickeln ihr Eigenleben. Wunderglaube drängt in einer furchteinflößenden Wiederverzauberung erneut an die Erdoberfläche. Wo der Mensch als mediales Abbild zunächst seine eigenen Mythen aus dem Ich heraus entwirft, brechen später die archaischen, tieferliegenden Mythen aus dem Grund und Boden hervor.

Die Bewohner der Hütte
Die Gefangenen im Wald Foto: 2024 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved

„They See You“ zerfällt in alle Einzelteile

Schlussendlich sind das drei thematisch sehr interessante Akte und Stoffe am Puls der Zeit. Nur wollen sie in „They See You“ einfach kein sinniges oder wenigstens packendes Ganzes ergeben. Man könnte ihre Bruchstellen aushalten, sie produktiv werden lassen! Doch Ishana Shyamalan fehlt es trotz einiger routiniert inszenierter Gruseleffekte einfach an bestechendem Stil und Können, die ausufernden Erzählebenen zu verbinden oder einzelne Gedanken reifen zu lassen. Ach, wurde das Thema Trauma und Trauerbewältigung schon erwähnt? Metaphern, wirre, überbordende Metaphern und Bezüge überall.

Wenn „They See You“ in sinnbildliche Abgründe steigt, dann weiß er, was er dort finden kann. Was ihn eigentlich daran interessiert, will sich nur kaum erschließen. Weil es diesem Film gänzlich an Fokus, Konzentration und Mut fehlt, die überladene Romanvorlage von allem Ballast zu befreien und sich auf eine zentrale Ebene zu konzentrieren. Stattdessen wird beflissen ein hanebüchener Twist, eine überflüssige Erläuterung nach der anderen abgegrast. Ein unentschlossenes, konfuses, schleppendes Werk.

„They See You“ läuft ab dem 6. Juni 2024 in den deutschen Kinos. Digital kann man den Film bereits für das Heimkino vorbestellen.

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