
Bei Netflix hat sich ein Vierteiler zum Überraschungshit gemausert: „Adolescence“ ist ein frühes Highlight des Serienjahres 2025.
Zu den erschütterndsten Momenten dieser Serie gehört das Bild von Vater und Sohn. Beide sitzen in einem kargen Verhörraum auf der Polizeiwache, weinend, sprachlos. Zuvor wurde ihnen belastendes Bildmaterial vorgeführt und eine Welt, bei der man vorher noch die Hoffnung hatte, sie wieder reparieren zu können, bricht endgültig entzwei. Der 13-jährige Sohn, Jamie heißt er, wurde verhaftet. Man beschuldigt ihn, seine Mitschülerin ermordet zu haben. Und nun sitzt er dort mit seinem Vater Eddie und beweint die Scham und Schande, die nun die Familie heimsucht.
Stephen Graham, der Ko-Autor der Serie, und das Nachwuchstalent Owen Cooper legen nicht nur in dieser Szene einen schauspielerischen Kraftakt und eine emotionale Entblößung hin, die in ihrer Intensität noch mehrfach an die Nieren gehen wird. „Adolescence“ ist eine der stärksten Serien, die man seit langem bei Netflix sehen konnte. Ganz unscheinbar hat die Streaming-Plattform die vier einstündigen Episoden veröffentlicht. In den vergangenen Tagen entwickelte sich dann ein kleiner Hype um die Miniserie, die nun auf Platz 1 der Netflix-Charts gelandet ist (DIGITAL FERNSEHEN berichtete).
Dabei hätte man bereits bei den Beteiligten ahnen können, dass hier ein potentielles Meisterwerk im Anmarsch ist. Philip Barantini hat den Vierteiler inszeniert. In der Vergangenheit hat er unter anderem bei dem grandiosen Drama Yes, Chef! Regie geführt, das den Stress in einem Restaurant einfängt. Sowohl dieser Film als auch „Adolescence“ arbeiten dabei mit der Technik des Onetakes. Sie sind in einer ohne Schnitte präsentierten Kameraeinstellung inszeniert. In beiden Werken entwickelt sich daraus eine ungemein suggestive Kraft im Erzählen.
Der technische Kniff von „Adolescence“
Beide nutzen besagten Kniff, um ihr Gefühl der Ausweglosigkeit, aber auch der Unübersichtlichkeit und Unkontrollierbarkeit auf die Wahrnehmung des Publikums zu übertragen. Man sitzt bei den vier Episoden gebannt vor dem Fernseher, kann kaum wegsehen, weil diese Choreographien mit Darstellern und Kamera so verblüffend konstruiert sind. Gerade dann, wenn die Kamera bestimmte Strecken mit Fahrzeugen zurücklegt und Perspektiven einnimmt, die sich einer menschlichen entziehen.
Der Auftakt von „Adolescence“ wiegt einen beim Zwiegespräch zweier Polizisten zunächst noch in Sicherheit. Wenige Augenblicke später stürmen sie ein Haus, treten die Tür der Millers ein, um den jüngsten Spross zu verhaften. Die Alltäglichkeit und Banalität, mit der hier eine Familie ins Chaos gestürzt wird und alle vermeintliche Unschuld in ihren Grundfesten erschüttert wird, ist zutiefst verstörend. Minutiös begleitet die Kamera den Weg durch die behördliche Mühle der Polizei, von der ersten Datenaufnahme bis zur medizinischen Untersuchung bis zum Verhör. Ein Mensch wird durchleuchtet und verfügbar gemacht.
Warum ist der Verzicht auf Schnitte so faszinierend?
Vielleicht ist der Onetake tatsächlich eine der zentralen filmischen Praktiken unserer Zeit. Weil in einer von unzähligen Bildschirmen, parallel flackernden und zerstückelten Medienbildern hier noch einmal das Gefühl von Kontinuität erlebt werden kann. Weil hier der Film als Kunstform noch einmal eine Sensation erhält, die der kurze TikTok-Clip im Netz vielleicht nicht bieten kann und die dementsprechend auch als Stunt und Attraktion vermarktet wird. Und weil über den Onetake eine Illusion von Authentizität und vermeintlich echtem Leben hergestellt werden kann, die der gewöhnlich montierte Film vielleicht gar nicht oder nur auf andere Art und Weise erlangen kann.
Natürlich ist hier nichts authentisch. All das folgt einem höchst ausgetüftelten Konzept, mit dem diese schauspielerische Aufführung eingefangen wird. Bemerkenswert ist doch: Der Onetake packt einen gerade dort, wo er das Blickfeld offensiv beschneidet, wo er das Publikum also unweigerlich auf die Begrenzung durch das Medium aufmerksam macht. Und dort, wo Kulissen mit Leben gefüllt werden und so ihren Charakter als Filmset verschleiern wollen.
In Episode 1 geschieht das etwa über die Nahaufnahme des Gesichts des Vaters, der hilflos bezeugen muss, wie sein Sohn entkleidet und von zwei Polizisten begutachtet wird. Das eigentliche Geschehen wird in das diskrete, unsichtbare Abseits verbannt, aber man spürt dennoch, dass es stattfindet, als spiele sich dort echte Realität ab, auch ohne dass die Kamera hinsehen muss. Als finde dort etwas Unverstelltes, Alltägliches und Uninszeniertes ganz beiläufig statt. Zumindest will einen das die Regiearbeit vorgaukeln.
„Adolescence“ zeigt schauspielerische Spitzenklasse
Mit einem ähnlichen Beleben der Räume wird immer wieder gespielt, auch wenn Statisten in den Kulissen drapiert werden. Eine Band etwa, die gerade in der Schule probt. Kurz öffnet man die Tür, dann geht man weiter. Die Präsenz der Kamera scheint sie nicht zu kümmern, die immer nur als Zaungast in dieser autonom erscheinenden Welt sein soll, in der alles so hochspannend den Bach runtergeht. Der Verzicht auf Schnitte allein reicht für eine solche Illusion nicht aus. Es kommt immer auf das Spiel mit der Platzierung im Raum an, mit der Art, wie Bilder enthüllt oder aber bewusst verschleiert und distanziert werden.
Vor allem aber hilft die Form von „Adolescence“ dabei, dieses ungemein beeindruckende Schauspiel wirken und erfahren zu lassen, ohne dass all die Darstellungen von Schnitten zerteilt und neu zusammengesetzt werden. Gerade die dritte Folge sticht hier besonders markant hervor. In der mit Auslassungen und Zeitsprüngen arbeitenden Serienstruktur entspinnt sich dort ein Zweipersonenstück auf engstem Raum. Eine Psychologin unterhält sich mit dem verhafteten Kind und versucht, dessen Innerstes zu begreifen. Ein Dialog wird in der Folge aufgeführt, bei dem man die Luft gefühlt zerschneiden kann. Spätestens hier bringt die Serie ihr zentrales Thema zum Vorschein.
Finstere Themen
„Adolescence“ untersucht, wie eine Elterngeneration den Überblick über die Abgründe des Internets verloren hat, mit denen die Kinder tagtäglich konfrontiert sind. Im digitalen Raum werden sexistische und gewalttätige Strukturen gespiegelt und künstlich angestachelt. Mobbing und Diskriminierung finden dort gleichermaßen ein Ventil wie ihre Fortsetzung. Was dabei vor allem über toxische Männlichkeit und die Incel-Kultur erzählt wird, mutet arg didaktisch und ausschnitthaft an. Es konfrontiert und berührt jedoch nicht weniger, gerade weil es so eng an der menschlichen Überforderung bleibt.
Die Engführung der Perspektive und das Ausblenden der Komplexität der Welt dort draußen erzählen hier mehr, als es zunächst vielleicht den Anschein hat. Mit den Tränen, Schuldgefühlen und sonstigen Ausbrüchen, von denen gerade das Serienfinale lebt, ist natürlich nichts gerettet oder aufgelöst. Viele Figuren, Fäden und Fragen der Serie sind bewusst schroff abgeschnitten. Eine Episode mehr hätte vielleicht dafür sorgen können, dass sich das Gesamtbild aus den vier Episoden noch stimmiger und aufschlussreicher zusammensetzt. Wie „Adolescence“ jedoch wiederholt in seine Mikrokosmen und sozialen Gefüge eintaucht und dabei zusieht, wie deren blinde Flecken enthüllt werden, überragt den Rest der aktuellen Serienlandschaft mit Leichtigkeit.
„Adolescence“ läuft seit dem 13. März 2025 bei Netflix.
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Bildquelle:
- Adolescence-Wache: Netflix
- Adolescence-Schule: Netflix
- Adolescence: Courtesy of Ben Blackall/Netflix © 2024
- Adolescence-Stephen-Graham: Netflix