Rebecca Millers Romantik-Drama “She Came To Me” mit Peter Dinklage und Anne Hathaway eröffnet die Berlinale 2023 auf die denkbar behäbigste Weise.
Eigentlich kann man sich nur noch darüber wundern, was zum Auftakt der Berliner Filmfestspiele geschieht. Da versammeln sich öffentlichkeitswirksam große Namen an einem Ort, Superstars reisen in die Hauptstadt. Kristen Stewart ist nur eine davon, die den diesjährigen Vorsitz der Jury übernimmt, welche am Ende den Goldenen Bären verleiht. Das Who is Who der deutschen Filmbranche sitzt im Berlinale Palast am Potsdamer Platz. Man streamt in die Welt, hält jedes Jahr wieder Reden über die Macht der Kunst, die politische Schlagkraft und Bedeutung des Kinos, die große Strahlkraft des Festivals für den Kulturstandort Deutschland.
Präsident Selenskyj ist per Video dabei: Der Krieg in der Ukraine und die revolutionären Bestrebungen im Iran waren die bestimmenden Themen, zu denen sich das Festival sowohl im Vorfeld als nun auch im Verlauf des gestarteten Programms positionieren musste und muss. Kino, Weltpolitik, gelebte gesellschaftliche Gegenwart – das alles ist natürlich verflochten. Und was geschieht dann? Nach all den großen Tönen und ermutigenden Lobgesängen auf die Kunst? Da wird ein Werk wie “She Came To Me” als Eröffnung für eines der größten Filmfestivals der Welt gezeigt.
„She Came To Me“ ist Netflix fürs Kino
Wenn dieses Drama auf die gesellschaftsprägende und -verändernde Kraft von Kino einstimmen soll, dann kann man es mit dem Kino auch bleiben lassen. Rebecca Millers Film ist, gelinde gesagt: nett. Ein Film für das seelisches Wohl, den man vielleicht zu Hause auf der Couch im Bingewatching-Modus belächeln und dann schnell wieder vergessen kann. “She Came To Me” mutet an wie die Zeitraffer-Version einer Seifenoper, die man auf zwei Stunden zusammengeschnitten hat. Ein konfuses Figurengewimmel über arme und reiche Patchwork-Familien, die sich in einem Romeo-und-Julia-Plot miteinander vereinen und ein bisschen am eigenen Befinden werkeln. Zusehen, wie andere ihre austauschbaren Problemchen lösen. Es gibt solche Filme wie Sand am Meer. Netflix für das Kino.
“Game of Thrones”-Star Peter Dinklage mimt da einen Opernkomponisten in der Schaffenskrise. Erst die Erfahrung eines Seitensprungs bringt den kreativen Geist wieder in die Spur. Seine Frau, Anne Hathaway, schmeißt derweil im grenzenlosen Ordnungsfimmel den Haushalt und wendet sich der Religion zu. Sohnemann bandelt mit der minderjährigen Tochter der angestellten Reinigungskraft an und sorgt damit für einen Skandal. Sein Schwiegervater in spe will ihn nun hinter Gitter bringen. Und so reihen sich in „She Came To Me“ eine kleine Vignette, eine Tonalität und ein Figurenschicksal aneinander. Man menschelt sich etwas durch den Alltag, alle Krisen, die das Leben so bereithalten kann, rauschen an einem vorbei. Ein paar Witzchen hier, ein paar Frivolitäten da. Positionen werden ausgetauscht, Rebecca Millers Drehbuch entwirft einen Reigen verschiedenster Perspektiven, die von einer Person zur nächsten schweifen und jeweils eine kurze Nabelschau betreiben.
Gute-Laune-Songs im Klassenkampf
Millers Drama birgt in Ansätzen interessantes Potential, im Mittelteil kann man kurz optimistisch werden. Nämlich dann, wenn besagte Romeo-und-Julia-Geschichte in Fahrt kommt und in ihrer Variation die Klassenfrage stellt. Die Wohlhabenden und die, die für sie arbeiten: zwei Welten, die sich einander begegnen und doch nur in einem starren System hängen, das eine Figur nach der anderen in die Neurose treibt. Aber da wird ja nur mit Platzpatronen geschossen. In all der Betulichkeit, all den völlig banalen Charakterentwürfen wird überhaupt kein Bestreben erkennbar, irgendetwas Fundamentales anzurühren, das sich dem Feelgood-Grundton entziehen würde. Stattdessen belästigt man das Publikum mit Knallchargen, die sich auf der Leinwand an einen Tisch setzen, während die „Sonnenseite des Lebens“ besungen wird. Opium in Krisenzeiten, aber kein kluges Kino!
Wenn es denn wenigstens eine Groteske wäre! Das hätte vielleicht noch ein amüsantes Spiel ergeben können, wo doch all die zahllosen Einzelgeschichten so wüst aufeinandergehetzt werden. Aber “She Came To Me” findet überhaupt keine geeignete Form, um dieser offenkundig angelegten Skurrilität zu begegnen. Die einzige markante ästhetische Spielerei, die Rebecca Millers Inszenierung an den Tag legt, ist ein wechselndes Bildformat. Immer wieder verengen sich die Bilder zum 4:3-Format. Besonders dann, wenn man die Gesichter der Schauspielerinnen und Schauspielern in Großaufnahme studieren will.
Warum kein mutigerer Auftakt für die Berlinale
Warum muss so ein banaler Film die 73. Berlinale eröffnen? Was ist das für ein Zeichen, das man in die Welt sendet? Er mag nicht stellvertretend für das Festivalprogramm stehen, gewiss, aber er setzt nun einmal den ersten Eindruck, die erste Stimmung, vielleicht sogar markante Themen. In einer Zeit, in der immer wieder die Krise der Kinoerfahrung beschworen wird, in der man berechtigt Wege sucht, einem politisch engagierten Filmemachen eine Bühne zu bereiten. Das meint auch: einem Kino, das sich gegen Konformismus, Massengeschmack und Markttauglichkeit wehrt – da ist „She Came To Me“ die falsche Wahl! Aktuelle Kino-Krisen bekämpft man nicht mit so einem Konsens-Streifen. Die Berlinale ist ein Festival mit einem zwar überfüllten, unübersichtlichen Programm, das aber stets Bühnen für radikales Formenspiel, für interessante Nachwuchsfilmkunst bereitet. Sie wird ja selbst nicht müde, auf ihre politische Bedeutung und Ausrichtung zu verweisen!
Warum dann nicht mit einem solchen radikalen, diskussionswürdigen Film beginnen? Die Zeit dafür wäre reifer denn je. Hat man Angst, dass die Exzellenzen im nächsten Jahr nicht mehr auftauchen, wenn man ihnen etwas Provokantes zur Einstimmung vorführt? Das Festival muss sich im Rampenlicht halten, es muss aufregendes Kino ins Gespräch bringen, auch abseits leichter Bekömmlichkeit, sich als Ort der Auseinandersetzung präsentieren. Mit einem Film wie “She Came To Me” machen sich die Berliner Filmfestspiele kleiner und belangloser als sie sind und sein sollten. Er ist in ihrem Programm nicht mehr als eine schnell übersehene Zierde, ein Lockmittel, um ein paar Stars und einen Hauch von Hollywood-Glamour vor Fotoapparaten positionieren zu können. Aber was soll’s: Das Problem hat Tradition.
Die 73. Berlinale findet vom 16. bis 26. Februar 2023 statt. Ein regulärer Starttermin von „She Came To Me“ ist noch nicht bekannt.