Celine Song erntet für ihr Spielfilmdebüt „Past Lives“ jede Menge Lob. Das Drama entwirft ein komplexes, bewegendes Bild von Heimat und Zuhause-Sein.
Ein stummer Mund klappt auf und zu. Celine Song positioniert ihre Hauptfiguren vor einer seltsamen künstlichen Gestalt, einer maschinell bewegten Statue im Park – sie ist das zentrale Bild in diesem Film. Unaufhaltsam formen diese künstlichen Lippen unhörbare Laute. Wie eine ewige Routine, die zur Aneignung verlockt: Zwei Kinder stehen vor ihr und tun es ihr spielerisch gleich. Sprechen als reine Technik, die nicht aufhören kann und doch nichts zu sagen vermag. Oder spricht ihre mechanisch surrende Stimme eine ganz andere, noch fremde Sprache in den Wind?
Die erwähnten Kinder sollen an diesem Ort ihren letzten glücklichen Moment gemeinsam genießen, den ihre Eltern ihnen bereiten wollen. Während Young Na und Hae Sung spielend die Welt erkunden, beraten ihre Mütter auf einer entfernten Bank bereits über das Ungeahnte. Die Künstlertochter Young Na soll gemeinsam mit ihrer Familie Korea verlassen. Damit nimmt die Freundschaft der Kinder ein jähes Ende. Ihre Bande kann auch die zeitspringende Struktur von Celine Songs Film nicht wieder flicken.
Wenn sich Kindheitsfreunde wiedersehen
„Past Lives“ erzählt die Geschichte einer Migrationserfahrung, die Geschichte des Erwachsenwerdens, die Geschichte einer Dreiecksbeziehung und die Geschichte einer Beheimatung. Jahre später werden sich Young Na, inzwischen heißt sie Nora (Greta Lee), und Hae Sung (Teo Yoo) über das Internet wiederfinden. Bloße Laut der Verblüffung bringen die beiden zunächst hervor, sowohl bei ihrer digitalen Begegnung via Skype als auch bei ihrer späteren persönlichen Begegnung in der analogen Welt – die Klappmaulfigur im Park hat ihre Sprachlosigkeit schon zu Beginn des Films vorweggenommen.
Tief sind die Gräben, die sich zwischen den beiden ehemals verwandten und mittlerweile entfernten Lebensrealitäten auftun. Beide haben sich verändert. Hae Sung wurde in Korea sozialisiert. Er ist in traditionellen Familiennormen aufgewachsen, hadert damit, im Alltag anzukommen, und trauert seiner verflossenen Jugendliebe nach. Diese trägt inzwischen nicht nur besagten neuen Namen, sondern macht Karriere in New York, hat einen neuen Partner gefunden. Arthur (John Magaro) lautet sein Name. Wie also ins Sprechen kommen?
„Past Lives“ ist einer der Festival-Hits des Jahres
Wenige Filme haben 2023 international so viel Lob erhalten. Celine Songs Kinodebüt galt schon vor seiner Deutschlandpremiere auf der Berlinale als einer der ganz großen Festival-Hits. In der Tat gelingt Song ein bemerkenswertes Drama, eine anrührende, elegant inszenierte Romanze. Die Bilder setzen Figuren in kluge Groß-Klein-, Nähe-und-Ferne-Relationen. Einmal wandern Nora und Hae Sung am Ufer entlang. Die Kamera folgt ihnen aus einiger Distanz, bewegt sich so behutsam und kontrolliert, wie die Figuren einander nähern und zu begegnen versuchen. Im Hintergrund überragen eine Brücke und die Skyline New Yorks die ehemaligen Freunde in kolossalen Ausmaßen – Menschen wandeln durch die erschlagenden, undurchdringbaren Geschichten ihrer Welt.
Dort, wo man sich beheimatet fühlt, erfährt man vor allem Rätsel, Ungewissheiten, unerforschtes Terrain. Der Tourist Hae Sung sieht die berühmte Freiheitsstatue früher als der New Yorker Arthur. Das Vertraute und Gewohnte wird erst durch den Einbruch anderer als fremd offenbar. So verhält es sich auch mit der Dreiecksbeziehung, die in „Past Lives“ über 100 Minuten hinweg zur emotionalen Krise führt.
Liebe im Wandel der Zeit
Biographische Brüche von einst bringen die Ordnung der Gegenwart ins Wanken, unterdrücktes Begehren grübelt über seine Dauer und Vergänglichkeit. Liebe und Freundschaft werden zu unsicheren und ähnlichen Kategorien. Die verhinderte Romanze auf der einen Seite entpuppt sich womöglich als reines Gespinst von Nostalgie, einer Verklärung des Vergangenen: Hae Sungs unerfüllte Liebe gegenüber Nora bezieht sich auf eine andere Person aus der Kindheit, welche es inzwischen nicht mehr gibt, wie ihm die aufstrebende Dramatikerin zu verstehen gibt.
Die Romanze auf der anderen Seite entdeckt derweil blinde Flecken und Grenzen, die gewisse Lebenserfahrungen voneinander abschirmen, auch sprachlich. Arthur spricht von einem Ort tief in Nora, an den er nie gelangen könne: Sprachliche Differenzen schaffen ihre eigenen Horizonte, Zugehörigkeiten und Realitäten. Es gilt der Versuch, das Empfundene überhaupt artikulieren zu können, während selbiges im Schlaf unbewusst hervorsprudelt. Kommt der bloße Dialog ihm jemals wirklich nahe?
Celine Song umschifft in „Past Lives“ Klischees
„Past Lives“ neigt ein wenig zur Reibungslosigkeit. Man lauscht gebannt diesen nahbaren, wunderschönen Menschen in diesen wunderschön komponierten, von flirrenden, verträumten Klängen begleiteten Bildern. Man versteht all ihre Probleme, ohne eine vergleichbare Hürde im ästhetischen Wahrnehmen überwinden zu müssen. Dafür meint es Celine Song vielleicht ein wenig zu gut mit ihrem Publikum. Ihr Film neigt zum betulichen Auserzählen. Besonders der letzte Akt sagt überwiegend Dinge auf, die längst viel subtiler vorgeführt wurden. Dennoch sollte der Regisseurin Respekt gebühren, wie unsentimental sie diese kleinen Auseinandersetzungen aneinanderreiht. Erst im entscheidenden Moment lässt sie allen überwältigenden Affekten verdienten freien Lauf.
Ihrem Figurengeflecht gelingt eine Fallhöhe, die verblüffend Klischees umschifft. Wann hat man zuletzt eine Dreiecksbeziehung im Kino sehen können, die mit solcher Reife und ohne gestelztes Zetern und Zanken ihre Konflikte austrägt? Keine Figur ist ihr zuwider, kein Motiv banal – „Past Lives“ meistert sein psychologisches Charakterzeichnen mit Bravour. Vor allem rettet dieser Film Begriffe der Heimat und des Zuhause-Seins vor rechtsnationalen Phantasmen, Vereinnahmungen und Banalisierungen. Die naive Vorstellung einer ewigen lokalen und lebenswirklichen Gebundenheit, einer kulturellen Essenz, die man vermeintlich ein ganzes Leben lang mit sich herumträgt, verkompliziert „Past Lives“ auf anregende Weise. Er unternimmt dies zuvorderst am Schicksal der Nora-Figur, die versucht, ihr künftiges Leben zu formen und zugleich mit ihrer Herkunft fremdelt.
Warum Heimat so kompliziert ist
Die Kulturwissenschaftlerin Yumin Li plädiert in ihrem Aufsatz „Zuhause-Sein als soziale Praxis“ dafür, Zuhause-Sein als stetigen Aushandlungsprozess zu begreifen. Statt von dem ideologisch besetzten Begriff „Heimat“ zu sprechen, lenkt sie den Fokus auf offene, dynamische „Beheimatungs-Prozesse“, bei denen sich verschiedene Schichten, Handlungen und zeitliche Projektionen überlagern. „Past Lives“ hilft dabei, die Schwierigkeit eines solchen Aushandlungsprozesses begreifen zu können und ihn von der bloßen Reduktion auf Herkunft zu emanzipieren. Gerade vor dem Hintergrund einer Migrationserfahrung, die Herkunft und Heimat in ganz neue Relationen setzt. Wie hätte das Leben für Nora und ihren Freund verlaufen können, wären bestimmte Dinge anders gekommen?
Alles eine Frage der Vorbestimmung – der Film thematisiert das buddhistische „In-yun“ – oder ein Arbeiten mit dem Zufall? Welche Altlasten müssen überwunden werden, um Fuß in einem neuen Leben, einer neuen Welt, einer neuen Liebe zu fassen? Heimat oder Beheimatung, das sind, wie es der Film, aber auch der Text von Yumin Li schildern, Beziehungen, die man knüpft, Bewegungen, die man vollzieht, Wandlungen, die man erfährt, Schranken, die man überwindet und auflöst. Das sind in „Past Lives“ die Erinnerungen an prägende Erlebnisse in Korea, Fragen und Änderungen im Laufe der Zeit. Und das sind Theorien und Ängste einer Zukunft. Besitzt die Beziehung Noras mit Arthur tatsächlich eine Perspektive, oder fallen da nicht zwei Welten auseinander?
Die Möglichkeiten einer anderen Realität
Heimat, das ist eine Herausforderung, erfahrene und noch nicht erfahrene Lebensstadien in sich selbst und in allen Brüchen ertragen zu können. All die verschiedenen gesellschaftlichen Prägungen, aus denen sich die persönliche Identität zusammensetzt und auf die man wiederum reagieren muss. Es heißt, sich und seine Beziehungen im Verändern auszuhalten. Es sind der Schmerz einer nie existenten Einheit, der Schmerz, dass die Perspektiven der Vergangenheit vorbeigezogen sind, und die Freude, dass sich daraus neue Wege ergeben, die es zu erkunden gilt. Nur dafür erzählt „Past Lives“ seinen dreigeteilten Abschied. Die Erinnerung an die verlorene Vergangenheit; sie flackert zum Schluss noch einmal für Sekundenbruchteile auf und stürzt zurück in die Kindheit.
„Past Lives“ lässt damit den universellen Kern einer Entwurzelung spürbar werden. Er sprengt den spezifischen Culture Clash zwischen Korea und den USA auf. Celine Song lädt ihr Publikum ein, das Umfeld und sich selbst zu befragen, wo und wie wir uns verorten und entfalten. Zu Beginn murmeln neugierige Stimmen aus dem Off und beobachten die drei Hauptfiguren in einer Bar. Wie mögen wohl ihre Verhältnisse und Verwandtschaften sein? Woher mögen sie sich kennen? Wer führt mit wem eine Beziehung? Worüber sprechen sie? Fragen über Fragen. Es könnte alles so, es könnte ganz anders sein.
„Past Lives – In einem anderen Leben“ läuft ab dem 17. August 2023 im Verleih von Studiocanal in den deutschen Kinos.
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