„Crimes of the Future“ von David Cronenberg: Lust unterm Skalpell

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Kristen Stewart und Viggo Mortensen
© 2022 SPF (Crimes) Productions Inc. & Argonauts Crimes Productions S.A., Photo Credit Nikos Nikolopoulos

Körperhorror-Spezialist David Cronenberg erzählt in „Crimes of the Future“ eine verstörende Geschichte über die Zukunft der Menschheit.

Schmerz verzieht sich aus der Welt, Haut und Fleisch werden unempfindlich. Chirurgie, Operieren ist der neue Sex, so das Mantra von „Crimes of the Future“. Skalpelle an surrenden Greifarmen werden zum Lustbringer. Blutend liegen zwei auf der Pritsche: befriedigt kuschelnd. Die Maschine hat neue Schlitze und Löcher in ihre Körper geschnitten, wo deren Grenzen und Öffnungen nicht mehr genügen. Gemeinsam orgastisch bluten für den Kick.

Wo das Hollywood-Kino in Prüderie versinkt, kehrt Regie-Altmeister David Cronenberg mit sensibel wie irritierend erdachtem Wundensex auf die Leinwände zurück, um an Körpern zu werkeln. Der Reißverschluss, jenes sexuell konnotierte Ein- und Ausfalltor, ist hier irgendwann in den Unterbauch genäht. Den Schieber zur Seite – Lecken in der Wunde. Oralsex nach Cronenberg-Manier.

„Crimes of the Future“ vermag Außergewöhnliches, das selten im filmischen Überangebot gelingt: etwas Nachhaltiges zu schaffen. Etwas, das sich festsetzt, auf dem man herumdenken muss, das einem immer wieder Eindrücke im Alltag durch die Synapsen jagt. Erst nach und nach wollen sich Einsichten oder Meinungen herausbilden, die das Cronenberg’sche Anatomietheater so unbehaglich faszinierend provoziert.

OP-Szene in "Crimes of the Future"
© 2022 SPF (Crimes) Productions Inc. & Argonauts Crimes Productions S.A., Photo Credit Nikos Nikolopoulos

„Crimes of the Future“ zeigt Operationen als Kunst

Viggo Mortensen und Léa Seydoux spielen das Liebespaar namens Saul und Caprice. Was sich körperlich-leiblich in dieser dystopischen Zukunftsvision verändert, verwandeln beide in eine Show. In ihm wuchern neue Organe. Zunächst nutzlose, noch unergründete Zellformationen, die mit Tattoos verziert, eingelegt und ausgestellt werden können. Sie hilft dabei, sie zu bergen. Ein avantgardistischer Untergrund mit OPs vor Publikum ist entstanden. Im Privaten bieten sich ebenso bizarre Anblicke: Schlafen im Lebendbett, ein organischer Stuhl rüttelt den Körper beim Essen durch, um das menschliche Kraftwerk zu stimulieren.

Seltsam, grotesk, erstaunlich minimalistisch, aber auch ungemein betörend sind die Bilder von „Crimes of the Future“. Zwischen Brachen, Lagerhallen und rostigen Wracks lässt Cronenberg seine Welt entstehen. Blätternder Putz und Lack, zerbröselnde Wände bilden schummrig angeleuchtete Reliefbühnen, auf denen Figuren nach Wegen suchen, mit den Verwerfungen und Fortschritten der Evolution Schritt zu halten. Institutionen versuchen derweil, ihnen Fesseln anzulegen. Das sexuelle Ritzen und Schneiden soll nicht sein, schon gar kein neuer Mensch.

Lea Seydoux, Viggo Mortensen und Kristen Stewart
© 2022 SPF (Crimes) Productions Inc. & Argonauts Crimes Productions S.A., Photo Credit Nikos Nikolopoulos

Gehen David Cronenberg die Ideen aus?

Natürlich sind das alles Motive, die man schon aus früheren Cronenberg-Klassikern kennt. Ihm daraus einen Strick drehen zu wollen, wäre jedoch unfair. Cronenbergs Körperhorror besitzt eine Unverkennbarkeit, die um ihre eigene Zeitlosigkeit weiß. Andere Filmemacher werden für solche Wiedererkennungswerte auch nicht kritisiert, weil sie in der Regel erst gar keine besitzen. „Crimes of the Future“ ist mitnichten ein altersmüdes Werk. Ja, es besitzt trotz expliziter Verstümmelungsbilder bei weitem nicht die physisch fühlbare Drastik von Werken wie „Die Fliege“ (1986). In dem Labor-Schocker zwischen Science Fiction und AIDS-Krise zerfiel ein Mann (Jeff Goldblum) zum Tier.

Aber warum sollte „Crimes of the Future“ einen ähnlichen Ekelfaktor besitzen, wo es doch gerade um das Verändern von Gefühlen, um ein Verlieren des Schmerzempfindens geht? Die Mischung aus praktischen Prothesen und sichtbar künstlichen Computereffekten entwickelt hier eine nüchtern beobachtete Kälte und Abgebrühtheit, die sich nur zu gut ihrem Erzählstoff anschmiegt. Davon abgesehen, dass Cronenberg durchaus interessiert ist, Vertrautes weiterzuspinnen.

Organbehörde in "Crimes of the Future"
© 2022 SPF (Crimes) Productions Inc. & Argonauts Crimes Productions S.A., Photo Credit Nikos Nikolopoulos

Schmerzlose Schmerzperformance

Das Inszenieren von Mutationen und Gewalt, ihr Verwandeln in einen Fetisch, wie man es etwa aus seinem Auto-Sexfilm „Crash“ kennt, befragt sich noch einmal neu. „Crimes of the Future“ verweist dabei implizit auf Traditionen der Schmerz-Performances seit den 1960er-Jahren von Gina Pane, Marina Abramović über die Wiener Aktionisten bis Ron Athey, Franko B und anderen. Stelarc ist mit seinen Cyborg-Inszenierungen besonders hervorzuheben. Einst ließ sich der Künstler ein Ohr in den Unterarm implantieren. Bei Cronenberg tanzt nun ein am ganzen Körper mit Ohren übersäter Mann. Gemein ist den genannten Praktiken nicht nur ein Befragen physischer Grenzen und Transformationen. Sondern auch ein gesteigertes Empfinden, eine intensive Realpräsenz von Körpern, die als Waffe gegen Normen und Politik, aber auch gegen sich selbst gerichtet werden. Nicht zuletzt mit Verboten und anderen Repressionen verbunden, wie sie auch „Crimes of the Future“ erzählt.

Cronenberg raubt diesen versehrten Körpern ihre Intensität, das ist der eigentlich interessante Twist. Er verwandelt die traumatische, schmerzhafte Begegnung in etwas Lustvolles oder etwas Unbegreifbares, Unfühlbares. Der Körper sei Realität, steht auf Bildschirmen. Ja, aber ebenso schwammig wie der Begriff der Realität erscheint nunmehr die Frage, was Menschen noch darin erkennen wollen und können. Gerade in einer Zeit, die den Körper mehr denn je als Ware und Baustelle begreift und permanent Abbilder von ihm produziert.

„Crimes of the Future“ kann in seinen Schau-OPs als ambivalenter Kommentar zu solchen sinnbildlichen Ausschlachtungen, aber auch Verklärungen alles vermeintlich Echten und Authentischen gelesen werden. Aber es ist keineswegs ein Abschwören gegenüber der Kunst oder des subversiven Potentials seiner performativen Prozesse. Es ist ein Suchen nach einem politischen Körper, der mehr ist als bloßer Schein oder Material, reine ästhetische Sensation oder stimulierter Trieb.

Lea Seydoux und Viggo Mortensen
© 2022 SPF (Crimes) Productions Inc. & Argonauts Crimes Productions S.A., Photo Credit Nikos Nikolopoulos

Die Öko-Krise verdauen

Das Obduzieren eines getöteten Kindes wird hier zum Politikum. Es ist eines der neuen Generation: ein Plastikfresser. Erst vertilgt es einen Eimer, dann wird es aus Angst erstickt. Cronenbergs neuer Mensch ist einer, der mit seinem eigenen Verdauungstrakt gegen den Umweltkollaps vorgehen könnte. Und der umgekehrt auch heute schon längst all das Mikroplastik tagtäglich in sich trägt – einer der Anlässe für den Film, die der Autorenfilmer selbst benennt. Und so wandelt sich sein Werk mit allerlei offenen Enden in Richtung eines neuen Subjektverständnisses. Mal verknoten sie sich, mal laufen sie völlig auseinander.

Nicht alles mag zum Aha-Erlebnis führen, das muss es auch gar nicht. Aber er stößt an, versucht, geht Risiken ein. Sein filmischer Leib begreift sich selbst als unabgeschlossenen, sich stetig verformenden. Das Kino von Cronenberg besitzt etwas Kathartisches, das erst noch verstanden und ergründet werden muss. Es hängt gebannt an einer Träne, die entweder vor wiedergewonnenem Schmerz oder utopischer Verzückung eine Wange herabrinnt. Aus dem sadistischen, sensationslüsternen Filmen wird plötzlich ein Akt des Schönen und der Befreiung. Ein Experiment, sich selbst auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, den Körper über eine bloße Darstellung zu erheben. Ihn neu in der Welt und für die Welt zu kultivieren.  

„Crimes of the Future“ läuft im Verleih von Weltkino seit dem 10. November 2022 in den deutschen Kinos. Für das Heimkino erscheint der Film voraussichtlich am 19. Mai 2023.

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