Fabio und Damiano D’Innocenzo wirbeln mit „Dostoevskij“ den Krimi-Einheitsbrei auf. Im Rahmen der Berlinale feierte die düstere Serienkiller-Serie von Sky ihre Weltpremiere.
Die Welt dieser Serie erwächst aus dem Tod. Ein Selbstmordversuch, Pillen, das Telefon klingelt, ein Leichenfund, der Serienkiller hat wieder zugeschlagen. Finger im Hals, Würgen, Kotzen auf dem Feldweg – eingefangen in einer ungeschnittenen, quälenden Einstellung. Enzi Vitello, ein griesgrämiger Polizist, muss wieder ran. Dostoevskij treibt sein Unwesen; so nennt die Polizei den Mörder. Neue Opfer hat er gefunden. An den Tatorten hinterlässt er literarische Ergüsse, Briefe, ausführliche und sensationslüsterne Beschreibungen der letzten Momente im Leben der Ermordeten. Enzo lässt sich auf das Spiel des Killers ein, das ihn tief in die eigenen psychischen Abgründe treibt. Nach den Bildern dieser Serie haben sie längst die Klauen ausgestreckt. Ihre grobkörnige, schmierige Ästhetik, der zutiefst suggestive und verführerische Einsatz von Kamerabewegungen und Schnitten ist sensationell geraten.
Grauenvolles in der italienischen Provinz
Ganz unvermittelt flackern kryptische Eindrücke auf, die sich in die Wahrnehmung und das Unterbewusstsein graben. Vermeintlich objektives Beobachten und subjektives Eintauchen in die gestörte Weltsicht des Protagonisten wechseln sich ab. Weder den eigenen noch den fremden Augen ist dabei zu trauen. Mal bewegt sich die virtuos geführte Kamera von Matteo Cocco hinter ihm her, als würde man der Figur eines Videospiels auf Schritt und Tritt folgen. Mal lösen sich die Szenen in essayistisch anmutenden Bewusstseinsströmen auf, die nervös Nahaufnahmen und Details aus den Räumen und Gedanken reißen. Finsterer, paranoider kann eine TV-Serie kaum werden.
„Dostoevskij“ spielt in der italienischen Provinz, wo geisterhafte Orte und verfallene Häuser selbst ohne die menschliche Brutalität ihre abschreckenden Seiten zeigen. Vertrocknete, drapierte Leichen werden in dieser durch und durch trostlosen Gegend inszeniert, als befände man sich in einer italienischen Version von „Texas Chainsaw Massacre“. An anderer Stelle wird das schlichte Erklimmen einer Treppe an einem alten Wohnkomplex in der Rahmung des Bildausschnitts zur labyrinthsichen M.C. Escher-Grafik. Wohn- und Schlafzimmer verwandeln sich in expressionistische, kontrastreich ausgeleuchtete Vorhöllen und Zwischenwelten. Augen, schweifende Blicke suchen hilflos nach einem Ausweg.
„Dostoevskij“ überragt das Gros der Krimiserien
Die Brüder Fabio und Damiano D’Innocenzo erzählen hier ein psychologisches Drama und einen Krimi, den man selten in einer solchen atmosphärischen Dichte und so anmutig grauenerregenden Aufnahmen zu sehen bekommt. Der HBO-Erfolg „True Detective“ bekommt mit diesem Format 2024 ordentlich Konkurrenz, wenngleich es aufgrund seiner widerspenstigen Form wahrscheinlich ein eher kleineres Publikum erreichen wird. Von Sky Studios sollen die D’innocenzos quasi freie kreative Hand bekommen haben, was sich zweifellos auszahlt.
In einer Zeit, in der Fernsehserien immer gleichförmiger erscheinen, der Mut zum Experiment immer seltener zu finden ist und möglichst wenig Reibung im Zusehen entstehen soll, sticht „Dostoevskij“ mit beachtlicher Radikalität und Gestaltungsfreude heraus. Na gut, die grundlegenden Formeln, mit denen das Sky-Format arbeitet, sind nicht neu. Ein heimgesuchter Polizist mit dunkler Vergangenheit, Familientraumata, Konflikte innerhalb der Behörden, die verzweifelte Jagd nach dem Serienkiller – ohne Klischees und Versatzstücke kein Genre!
Purer Nihilismus
Womit sich die D’innocenzos jedoch abheben, ist diese radikale Innerlichkeit, mit der ihre Serie auf die Welt schaut und ihren Schrecken ästhetisiert. Gewiss kann man die Augen verdrehen gegenüber dem grenzenlosen Nihilismus, Vernichtungstrieb und Weltschmerz, der hier via Voice-Over über den Zuschauern und Horrorbildern ausgegossen wird.
Nichts ist mehr zu retten, alles ist sinnlos, das Leben eine einzige Ansammlung von Schmerz, Verletzung und Tod. Also bleibt wohl nichts anderes übrig, dieses Spiel mitzuspielen und sich dem Bösen gedanklich anzunähern. Nirgends wartet Befriedigung, nicht einmal beim Essen in der Mittagspause. In den Bildern von „Dostevskij“ sieht ein Apfel auf dem Teller aus wie ein blasser Gesteinsbrocken.
Die Psychoduelle zwischen Vater und Tochter verstören
Auch die Beziehung des Protagonisten, mit herausragender Präsenz von Filippo Timi verkörpert, zu seiner Tochter (Carlotta Gamba) spült allerlei Qualen nach oben. Die Familie ist längst kaputt. Entfremdet sind die verbleibenden Mitglieder, man feindet sich nur noch an, etwas Schlimmes ist früher geschehen. Ihre verbalen und physisch gewalttätigen Duelle zeigen die D’Innocenzos teilweise in minutenlangen, ungeheuer intensiven Plansequenzen. In ihnen soll das erschütternde Schauspiel voll und ganz im Zentrum stehen. Es erhält gerade in den Eskalationen Raum zum Improvisieren, Raum für das Unkontrollierte, Hemmungslose ohne dass die Schnitte der Montage Erlösung bringen könnten. So reicht ein einfacher Dialog zwischen zwei Menschen an einem Strand zur Hochspannung, auch ohne die sonst in Krimis üblichen Ermittlungsarbeiten, Schusswechsel oder Verfolgungsjagden.
Man spürt, dass die D’Innocenzos erneut große Lust an der Konfrontation mit dem Abgründigen ausleben, auch wenn sie hin und wieder von etwas schlichten, kalkulierten Schockeffekten zwischen Selbstverletzung, Mord und Ausscheidungen lebt. Die Grenze zum selbstzweckhaften Wühlen im Leid rückt immer deutlicher in greifbare Nähe. Glückliche Stunden versprechen die Arbeiten der D’Innocenzos aber sowieso nicht. Schon ihre bisherigen, vorrangig auf Festivals präsenten Filme, zuletzt „Bad Tales“ und „America Latina“, waren alles andere als Gute-Laune-Programme. Auch diese Werke lebten vor allem vom Zitieren und Anheften an große Genre-Vorbilder und Traditionen. „Dostoevskij“ ist nun vielleicht das erste Projekt der beiden Filmemacher, in dem aus diesem Verrühren des Bekannten etwas tatsächlich Einnehmendes, Stimmiges und Stimmungsvolles entsteht, von dessen Teuflischkeit man sich gern mitreißen lässt.
Finsteres Binge-Watching-Erlebnis
Unaufhaltsam dreht sich die Abwärtsspirale in den sechs Folgen. Nie schleicht sich ein Lichtstrahl in die Handlung. Auf der Berlinale, wo die Serie ihre Weltpremiere feierte, wurden die insgesamt 279 Minuten fast am Stück und mit nur einer kurzen Pause gezeigt. Ein Kraftakt, aber die geeignete Form! Ein Marathon bietet sich hier zweifellos an, zumal die Mini-Serie kürzer ist als viele andere.
Hat man sich einmal in „Dostoevskij“ hineingewagt, fällt es schwer, sich zu lösen, so verschlingend ist seine Dunkelheit geraten. Ob sich diese atmosphärische Kraft genauso gut entfalten kann, wenn man die einzelnen Episoden voneinander getrennt sieht, ist fraglich.
„Dostoevsky“ feierte im Rahmen der 74. Internationalen Filmfestspiele Berlin als Special Gala seine Weltpremiere. In Deutschland wird die sechsteilige Serie bei Sky erscheinen. Ein Startdatum ist noch nicht bekannt.
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