In dem Oscar-Anwärter „Die Aussprache“ diskutieren die missbrauchten Frauen einer abgeschotteten Kolonie über ihr Schicksal. Wie soll es weitergehen?
Sarah Polley hat in ihrem neuen Spielfilm die Sicht verengt. Große schwarze Balken oben und unten, die Bilder schmal und in die Breite gezogen. Fast scheint es so, als hätte das Auge der Kamera sein Lid zusammengekniffen, um angestrengt die Sehkraft zu schärfen. Oder mehr noch: einen wütenden, drohenden Blick auf die Welt zu werfen. Rooney Mara, Claire Foy, Frances McDormand, Jessie Buckley und diverse andere Frauen verschiedenster Altersklassen finden sich in diesem Film zusammen. Sie spielen die Unterdrückten, Geschändeten, Erbosten einer mennonitischen Gemeinschaft.
Alle haben sich der strengen patriarchalen, religiös legitimierten Ordnung zu fügen. Die Männer vergreifen sich nachts an den Frauen. Morgens erzählt man ihnen dann Schauergeschichten von bösen Geistern. Das Glaubenskorsett wird immer enger geschnürt. Es taugt gleichermaßen als Drohung wie Beschwichtigung, um sich dem Unrecht gehorsam zu fügen. Sarah Polley inszeniert nun ein kurzes Zeitfenster des Durchschnaufens und Reflektierens. Es ist das historische Spiegelbild unserer gegenwärtigen #metoo-Zeit, die überlegt, wie ein Überleben nach dem Trauma, ein Neuverhandeln von Machtverhältnissen aussehen kann. Nach einer wahren Begebenheit.
„Die Aussprache“ basiert auf dem Roman von Miriam Toews
Die Romanvorlage „Women Talking“ der Autorin Miriam Toews hat Polley als dialoglastiges Kammerspiel adaptiert, das nur dann und wann aus seinem Rahmen heraustritt. Die Taten selbst, die Anstoß für die Diskussionsrunde geben, spart die Regisseurin aus. Statt auf eine voyeuristische Darstellung der Verbrechen zu setzen, rückt sie allein die grauenerregenden Momente des Aufwachens ins Bild: Blutflecken auf den Kleidern und im Bett. Eine Frau spuckt Zähne in ihre Handfläche. Ganz unvermittelt flackern solche verstörenden Eindrücke auf. An anderen Stellen zeigt Polley fragmentarisch leere Wohnhäuser, Felder, Klassenzimmer. Man weiß nicht so recht, ob es Bilder einer früheren, verlassenen, ausgestorbenen Welt sind, oder von einer, die es erst noch zu entdecken und zu besiedeln gilt. Ende und Neubeginn – „Die Aussprache“ denkt an beides simultan.
Während die Männer in der nächstgelegenen Stadt unterwegs sind, treffen sich nun die hinterbliebenen Frauen auf dem Heuboden der Scheune und debattieren, was sie tun wollen. Einfach in der Kolonie bleiben, den Peinigern vergeben und so tun, als wäre nie etwas geschehen? Den vergewaltigenden Männern den Krieg erklären, sich zur Wehr setzen? Oder einfach die Kinder schnappen und für immer die Heimat verlassen? Nur ein Mann ist mit dabei und zeigt sich empathisch: der Protokollant August (Ben Whishaw).
„Die Aussprache“ spinnt daraus ein dichtes Geflecht zeitloser Konflikte. Notwendigkeit und Angst vor einer Revolution gehen Hand in Hand und werden in reichlich anderthalb Stunden ausgiebig debattiert. Das religiöse Gift steckt so tief in den Poren, dass es jedes Aufbegehren unterbindet. Groß ist die Angst vor Gottes Strafe, wenn man sich seiner Ordnung widersetzt. Zugleich steht fest: Die Täter dürfen nicht einfach davonkommen.
Die Scheune als Höhle
Was Sarah Polley inszeniert, ist quasi das entsättigte Leinwandgemälde von Platons Höhle. Die ein oder andere versucht noch, ihre Mitmenschen im dunklen Abgrund davon zu überzeugen, sich von den Fesseln der Unmündigkeit zu befreien und sich nach draußen zu wagen. Aber will man sich wirklich dieser Gefahr aussetzen? Zumal: Man wurde bewusst von Bildung ferngehalten. Nicht einmal eine Karte besitzt man, um sich in der Welt zu orientieren.
Polleys Film verwandelt dabei sich und den Kinosaal mit seinem expressiven Licht- und Schattenspiel selbst in eine schummrige Höhle. Die Bilder sind so trüb und finster und entsättigt, dass sie oftmals einer Schwarz-Weiß-Ästhetik gleichen. Sie zeigen eine Welt der Kälte und Dunkelheit, in der das Sonnenlicht höchstens zum blendenden Schleier taugt. Es ist durchaus geschickt, wie Polley diese Räume inszeniert, wie die Kamera von Luc Montpellier sie durchstreift und all die prominenten Gesichter erforscht. „Die Aussprache“ setzt sich fortwährend zum Gruppenbild zusammen, um dann wieder in einzelne Porträts zu zerfallen – so, wie es auch in der Debatte der Frauen geschieht, die um Einigkeit kämpfen.
Ein großes Fenster in der Scheune gibt die Sicht nach draußen frei: Da wartet noch ein Leben, eine Alternative. Und doch erscheint sie nur als karges Ödland mit ein paar vereinzelten Bäumen und einer langen, langen Straße, die in eine ungewisse Zukunft führt. Was wird denn aus den Kindern? Ist nicht dort die gewalttätige Ideologie der Unter- und Überordnung ebenfalls längst verankert? Ist also selbst das Fortgehen aus dieser Örtlichkeit nur ein kurzzeitiger Trost?
Träger Diskurs
Zugleich bleibt die Frage: Wie kann es sein, dass bei solch interessanten Ansätze und Fertigkeiten dennoch ein so schwerfälliger, sogar wenig erhellender Film entstanden ist? Es liegt an der unendlichen Starre, die in „Die Aussprache“ um sich greift. Sie verhindert, dass das äußerst kontroverse Thema jemals seine volle Wucht auf der Leinwand entfalten kann. Polley inszeniert eine aktivistische Botschaft. Sie entlädt sich irgendwann zu sentimentalen Streicherklängen, tritt bis zu diesem Punkt diskursiv aber schleppend auf der Stelle. Das Potential solcher Debattenfilme liegt ja gerade darin, dass sie ihr Publikum so wunderbar in der eigenen Position verunsichern können. In der Konfrontation mit verschiedensten Argumenten können munter Sympathien verschoben oder eingangs feststehende Annahmen über den Haufen geworfen werden.
In Polleys Film findet ein solches Ringen mit den eigenen Standpunkten im Grunde aber kaum statt. Das Publikum wird in der Moral verortet und bekommt selbstverständlich die erwartete Genugtuung vor die Nase gesetzt. Im Kern gleicht besagte Genugtuung aber lediglich dem Beiwohnen eines Über-den-eigenen-Schatten-Springens. Es ist ein Film darüber, überhaupt ins Reden zu kommen, Worte zu finden, gewiss. Doch überzeugt „Die Aussprache“ dabei weder mit sonderlich originellen oder unerwarteten Debattenbeiträgen noch besteht für das Publikum irgendein Zweifel an der Notwendigkeit, diesen Mikrokosmos zu zerstören oder ihm den Rücken zu kehren.
Argumente der Unsicherheit an der Revolte werden hier häufig aus Sicht des Glaubens, der Gewohnheit, des schlechten Gewissens und der Angst vorgebracht. Das ist einfühlsam beobachtet und spannend in der Art, wie ein individuelles Empfinden von Konformismus und normativem Druck überwunden werden will, um zu einer Form der Solidarität zu finden. Dennoch: Es sind damit eigentlich die Argumente der Männer. Vielleicht ist das die finsterste Pointe von Sarah Polleys Film: die nicht enden wollende Anwesenheit der unsichtbaren Täter in den Worten ihrer Opfer.
„Die Aussprache“ läuft seit dem 9. Februar 2023 in den deutschen Kinos und ist für den Oscar als Bester Film und für das Beste adaptierte Drehbuch nominiert.
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