Nicolas Winding Refn („Drive“) legt mit „Copenhagen Cowboy“ eine weitere Serie vor, die auf den Streaming-Plattformen ordentlich aus der Reihe tanzt. In Venedig feierte die Show Weltpremiere.
Wer ist diese Frau im blauen Anzug? Wie aus dem Nichts taucht sie auf. Ein wandelndes, schweigsames Rätsel. Wundersame Kräfte scheint sie zu besitzen. Andere wollen davon etwas abhaben und sie für ihre Zwecke benutzen. Ist sie eine Hexe? Ein außerirdisches Wesen? Eine Stellvertreterin? Oder einfach nur eine Ausgebeutete, die nun ihren eigenen Kopf durchzusetzen versucht?
Miu, so heißt sie, gespielt von Angela Bundalovic, gerät in ein Bordell, wo Frauen als Ware gehandelt werden. Aus einem Keller steigen sie empor, um den albern posierenden, aufgepumpten Männern zu dienen. Und so wagt sich Regisseur Nicolas Winding Refn mit seiner neuen Serie „Copenhagen Cowboy“ einmal mehr in die Unterwelten von Gangstern, Prostituierten, Dealern und mafiösen Machenschaften, angereichert mit einer großen Portion Fantastik. Bei Netflix wird die Show ihre Streaming-Premiere feiern.
Nach „Too Old To Die Young“ ein weiteres Experiment?
Winding Refn ist ein europäischer Filmemacher, dem es gelungen ist, eine Kultgemeinde um sich zu scharen. Während sich etwa seine „Pusher“-Trilogie noch verhältnismäßig zugänglich präsentierte und „Drive“ mit Ryan Gosling in der Popkultur begeistert Kreise zog, handelt es sich dennoch um einen Regisseur mit polarisierender Handschrift. Seine erschlagenden, neonbeleuchteten und mit wummernden Beats unterlegten Bildwelten haben in den vergangenen Jahren zahlreiche glühende Anhänger gefunden, während sich andere von den oft kryptisch gehaltenen Werken genervt abwenden.
Bei Prime Video war zuletzt seine Miniserie „Too Old To Die Young“ zu sehen, die jedoch kaum größere Aufmerksamkeit erhielt. Zu sperrig, zu abgedreht, schwere Kost! Oder ein verkanntes Meisterwerk? Alles zugleich? Wie auch immer man zu dem Experiment stehen mochte: Winding Refns Serie war ein widerborstiges Unikum im Alltagsbrei der Streaming-Landschaft. „Too Old To Die Young“ suhlte sich so in der Schönheit und Überstilisierung seiner grausamen Gangsterwelt, dass sich die Serie mehr einer Videoinstallation als einer kohärenten Erzählung annäherte. Der Autorenfilmer entschleunigte seine Einstellungen mitunter fast bis zu einer Reihe von Standbildern. Umso neugieriger konnte man sein, ob er nun auf der Konkurrenz-Plattform Netflix Ähnliches versuchen würde.
Filmische Trance
Die Antwort lautet: Ja und Nein. „Copenhagen Cowboy“ verzichtet auf die überzogene Langsamkeit der Vorgängerserie. Hier ist alles flotter erzählt und geschnitten. Und doch besitzt auch dieses neue Werk des Regisseurs wieder seine einzigartige, träumerisch schwelgende Erzählweise, die ihr Publikum zu hypnotisieren versucht, bis erfahrene Stimmungen und Atmosphären ihr ganz eigenes Narrativ formen. Die erste Hälfte dieser fünf Stunden lange Serie ist schlicht berauschend. Audiovisuelles Halluzinogen, das einem Winding Refn mit ohrenbetäubender Lautstärke und wuchtigen Neonbildern ins Bewusstsein hämmert.
„Copenhagen Cowboy“ verwandelt dabei Geschlechterstereotype in Spektakel. Frauen werden als Objekte im Raum drapiert, Männer stählen ihre Muskeln und prügeln sich gegenseitig die fleischigen Massen kaputt. Eine Vampirfamilie taucht zwischendrin auf. Vater sehnt sich nach einem monströsen Penis. Hypermaskulinität wird bis ins Absurde verzerrt. Es ist einmal mehr eine Ästhetik der Oberflächen und künstlichen Fassaden, die Winding Refn so bildgewaltig in Szene setzt.
Seine Figuren wandeln durch ein spätmodernes Delirium von Käuflichkeiten und Gewalt, das kein Vor und Zurück mehr zu kennen scheint. Es narkotisiert, vernebelt die Sinne. Winding Refns Bilder tun es ihm gleich. In den stärksten Momenten entwickelt „Copenhagen Cowboy“ einen tranceartigen Sog, der Körper, Licht und Klang eindrucksvoll zu bespielen weiß. Eine Martial-Arts-Kampfszene wird da zur Symphonie: Mit jedem Schlag scheppern neue Noten und Geräusche in dem dröhnenden Klangteppich.
Nicolas Winding Refn zelebriert das Glotzen
„Copenhagen Cowboy“ ist ein Abwandeln verschiedener Stationen und Bewusstseinszustände. Seine wenigen definierbaren Handlungsfäden dröseln im Laufe der sechs Episoden zusätzlich auf, um Kommendes anzukündigen. Schwer zu sagen, wie sich dieses monolithische Bild-und-Klang-Monstrum nun in Streaming-Welt einfügt. Herausragend ist es so oder so. Es löst Sehgewohnheiten, eine Lust am Verfolgen von Psychologien und Erzählungen konsequent auf. Oder entlarvt es sie nicht vielmehr? Vielleicht ist es die gezeigte Extremform eines kontemplativen Zusehens und Streamens, zu dem die etablierten Dienste gerne verführen. Ein gaffendes, inhaltsleeres, stundenlanges Starren. Fernsehen als Droge und Bewusstseinserweiterung, diesem Gefühl kommt Winding Refns Format schon recht nahe.
Es arbeitet inhaltlich allein mit vagen Schlagworten, flackert und flimmert allein für den eigenen Erhalt. Auch für seine ästhetische Form gibt es im Laufe der sechs Episoden eigentlich immer weniger Anlass, abgesehen vom reinen Selbstzweck. Völlige Überwältigung und Banalität lagen bei diesem Regisseur schon oft nah beieinander. Vielleicht lauert aber auch gerade darin die große Subversion, die seine Serie anstrebt. Im protzend stilisierten Dahinvegetieren vor dem TV, im Zelebrieren des Sinnlosen, das die eigene Leere in abgründige Schönheit übersetzt.
Winding Refns Filme gleichen immer mehr einem Rabbit Hole, einem Wunderland, in das man abtauchen kann und in dem man kaum weiß, wie einem geschieht. Von dem man sich hemmungslos übersättigt und verstört fühlt bei all den Selbstreferenzen und Selbstherrlichkeiten. Und doch wirft es einen verzaubert wieder in den Alltag zurück.
„Copenhagen Cowboy“ feierte seine Weltpremiere außer Konkurrenz bei den 79. Internationalen Filmfestspielen von Venedig. Ein Streaming-Start bei Netflix soll am 5. Januar 2023 erfolgen.
Den ersten Teaser zur Serie kann man hier sehen:
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Bildquelle:
- copenhagen-cowboy: Netflix