Lukas Dhont hat mit „Close“ einen eindrucksvollen Film über ein Kindheitstrauma und beengende Geschlechterklischees gedreht. Dafür gab es eine Oscar-Nominierung.
Man möchte diesen Film den Verantwortlichen hinter dem parallel in den Kinos gestarteten „Caveman“ zeigen. Wo die deutsche Komödie über Geschlechter-Gags aus vergangenen Jahrzehnten kichert, zeigt „Close“ von Regisseur Lukas Dhont („Girl), wie eindrucksvoll und komplex man sich mit diesem Themenfeld filmisch auseinandersetzen kann. Dhont erzählt die Geschichte zweier 13-Jähriger: Léo und Rémi heißen sie. Eine enge Freundschaft hat sich zwischen ihnen entwickelt. Sorglos leben beide in die Tage hinein. Als es nach den Sommerferien zurück in die Schule geht, lösen sich die Bande zwischen den beiden jedoch mit verheerenden Folgen.
Die erste Hälfte dieses für den Oscar nominierten Dramas (Bester Internationaler Film) ist ein ästhetisches Glanzstück: „Close“ kreiert Bilder von höchster Intimität: Lichtwürfe, Textilien, Oberflächen, Haut, Haare, Gewächse, wenn es einmal nach draußen geht – da lauert eine physisch greifbare Sinnlichkeit in der gezeigten Welt und den einzelnen Szenen, die zwischen Freundschaft, Liebe und Familie kaum unterscheiden wollen.
„Close“ erzählt vom Zusammenbruch einer unbeschwerten Zeit
Eden Dambrine und Gustav De Waele, die beiden Hauptdarsteller, erwecken dieses Coming-of-Age-Drama mit vorsichtigen Gesten, eindringlichen Blicken zum Leben. Ist es eine Form von Erotik, die sich da zwischen den Heranwachsenden entwickelt, noch bevor sie die beiden selbst greifen können? Oder ist das Denken in Kategorisierungen dafür ohnehin schlicht zu starr? „Close“ entwirft die Zeit einer unbeschwerten Kindheit, einer Trennung vom Rest der Welt. Rollen und Identitäten sind noch fluide. Die Konventionen sind noch fern, welche es irgendwann zu erfüllen gilt, um dazuzugehören.
Mit der Rückkehr in den Schulalltag nimmt dieser Zustand schier unbegrenzter Möglichkeiten ein jähes Ende. Aus den Kindern sollen Männer werden, Geschlechterstereotype und Klischees stülpt man sich im sozialen Miteinander plötzlich als Fesseln über. Gewalt bricht Bahn, wo man sich selbst als souverän behaupten soll. Männlichkeit, Weiblichkeit und das Begehren werden in vorgeschriebene Bahnen gezwängt.
Eine Katastrophe zerteilt den Film
„Close“ ergründet damit auf feinfühlige und provokante Weise das Konstruieren der sogenannten Norm, einer dominanzkulturellen Praxis von eindeutigen Zuweisungen. Es ist eine Angleichung an die vermeintliche Mehrheit, die hier als jugendlicher Prozess beleuchtet wird. Persönliche Ambivalenzen und Grauzonen, gerade wenn es um die geschlechtliche Identität geht, sollen getilgt werden.
Auch die (Wahl)Familie zu Hause kann sich dem kaum verwehren, erkennt erst zu spät ihr eigenes Unvermögen, ihre Vorbehalte, mit denen man durch den Alltag schreitet. Im geteilten Schmerz und über Grenzziehungen hinweg muss sie schließlich zueinanderfinden. Schade, dass dieses klug inszenierte Drama hinterher so unsicher in zwei Teile zerfällt, die sich nur mäßig ergänzen wollen: Ewig geweint und getrauert wird da nur noch über eine zentrale Katastrophe, die längst ihre aussagekräftige Wucht entfaltet hat und wenige neue Facetten zu enthüllen hat.
„Close“ läuft ab dem 26. Januar 2023 bundesweit in den deutschen Kinos.