Eine Auseinandersetzung zwischen Jugend und Polizei eskaliert in „Athena“ zu einem der intensivsten Actionfilme des Jahres. Noch diesen Monat erscheint der Film bei Netflix, nachdem er in Venedig Weltpremiere feierte.
In Windeseile ist von der Zivilisation nicht mehr viel übrig. In den Pariser Banlieues bricht die Hölle los, die Jugend steigt auf die Barrikaden. Regisseur Romain Gavras hat eine Fortsetzung im Geiste zu Ladj Lys „Die Wütenden – Les Misérables“ aus dem Jahr 2019 gedreht. Bei Ly versuchten Polizisten, belastendes Beweismaterial einer Videoaufnahme zurückzubekommen, um ihre eigenen Vergehen zu vertuschen. Zum Schluss gipfelte dieses Vorhaben in einer apokalyptischen Zerstörungsorgie, als sich die Jugend zu wehren wusste. Gavras greift in „Athena“ nun auf ein ähnliches Szenario zurück. Was in „Die Wütenden“ noch den Höhepunkt einer sich steigernden Eskalation bildete, baut Gavras zum eigenen Spielfilm aus.
Ein Kind ist tot. Polizisten sollen es zu Tode geprügelt haben, die Welt hat es auf einem Video gesehen. Die Brüder des Ermordeten sind entzweit. Während der eine zur Aufklärung und Mäßigung aufruft, geht der andere im gewaltsamen Widerstand auf. Schon lange schwelen die Konflikte zwischen der Jugend und den Behörden. Diskriminierung, soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeiten haben Parallelwelten in den Banlieues hervorgebracht, in denen die Aggressionen nun überkochen. Die Teenager wollen sich nicht länger gängeln lassen, sich Gehör verschaffen. Ihre Revolte verwandelt ein ganzes Wohnviertel in ein Schlachtfeld. Ein Bürgerkrieg bricht aus. Der erste Akt dieses Films schnürt einem schier die Luft ab.
„Athena“ führt mitten hinein in das Kriegschaos
Wie „Athena“ seinen politischen Konflikt erzählt, das ist in kurzer Zeit umrissen. Die lose gestrickte gesellschaftspolitische Konstellation bildet den Rahmen für eine Zuspitzung gegenwärtiger Konflikte, die Romain Gavras in einem erschütternden Was-wäre-wenn-Szenario bis zum Exzess treibt. Seine Ästhetik ist eine der Zerstörung und Panik. Eine, die ein filmisches Mittendrin-Gefühl zu simulieren versucht. Die Leinwand beziehungsweise später der heimische TV-Bildschirm via Netflix wird zum Wahrnehmungsorgan in einer nicht enden wollenden Katastrophe.
Gavras arbeitet immer wieder mit langen, aufwändigen Kamerafahrten, beeindruckend choreographierten Actionszenen, die sich durch brennende Feuerwerksgeschosse, zerstörte Wohnungen und aufeinander einprügelnde Menschenmassen bewegen. Das ist natürlich eine gewisse Technikdemonstration, ein Ausstellen der eigenen inszenatorischen Fertigkeiten. Erstaunlich erscheint jedoch, dass Gavran vermeidet, sein Bürgerkriegsszenario mit einer solchen Ästhetik in eine Art Videospiel zu verwandeln. Die Kamera in seinem Film bleibt stattdessen häufig Subjekt, fühlende, erschütterte, rastlose Instanz, kein ätherisches, allwissendes Auge. Dem Film verleiht das eine enorme Wucht, mit der „Athena“ über sein Publikum hinwegfegt.
Inkonsequente Auflösung
Zur Wahrheit von Gavras Action-Werk gehört jedoch auch, dass „Athena“ abseits seiner faszinierenden Seherfahrung erzählerisch danebengreift. Da wird irgendwann im Film über einen TV-Bericht die Frage eröffnet, ob es sich bei dem Video des getöteten Jungen nicht nur um eine Inszenierung von Rechtsextremen handelt, um die schwelenden Konflikte zur Eskalation zu treiben. Gerade das ist doch ein spannender Moment, an dem sowieso schon alles zu spät ist.
Unheil ist angerichtet und lässt sich nicht mehr aufhalten. Von einem Chaos geht es weiter zum nächsten, ohne Aussicht auf eine Erlösung. Eine apokalyptische Eigendynamik auf Film gebannt. Immer wieder verlagern sich die disruptiven Energien von einer Figur zur nächsten. Das Ziel ist die gegenseitige Vernichtung. Ihre Perspektiven splitten sich immer wieder auf, verteilen sich.
Leider entschließt sich „Athena“ jedoch dazu, eine Auflösung zu liefern, eine zu einfache Antwort, die beide Probleme, die der Polizeigewalt und die des Rechtsextremismus, auf verquere Weise gegeneinander ausspielt, anstatt sie in der konsequenten Schwebe zu belassen. Die Sozialkritik, die der Film übt, relativiert sich damit selbst, sucht lieber offensichtliche Sündenböcke, anstatt die Ambivalenzen herauszuarbeiten. An erzählerischer Finesse fehlt es ihr letztlich, dieser fulminant inszenierten Tragödie, die einen zuvor mit reiner kinetischer Energie und unheilvollem Orientierungsverlust in den Sitz drückt.
„Athena“ feierte Weltpremiere im Wettbewerb der 79. Filmfestspiele von Venedig. Am 23. September erscheint der Film im Programm von Netflix.
Bildquelle:
- athena-netflix-venedig: © 2021 Netflix, Inc.
- athena-polizei: © 2021 Netflix, Inc.
- athena: © 2021 Netflix, Inc.